München:Ehemalige Bewohner erheben schwere Vorwürfe gegen SOS-Kinderdorf

Lesezeit: 6 min

Zwei Frauen, die als Kinderdorfmütter tätig waren, sollen in ihren Häusern ein Klima der Angst geschaffen haben. Eine Studie berichtet von überzogenen Regeln und Strafen. Viele Angestellte fragen sich nun: Wie konnte das bloß passieren?

Von Bernd Kastner

Im Kosmos der SOS-Kinderdörfer gibt es zwei Welten. Da ist die helle, heile Welt. In ihr lachen auf bunten Bildern fröhliche Kinder, da kommen Prominente zu Besuch, und viele Menschen spenden viele Millionen Euro, weil der in München ansässige Verein SOS-Kinderdorf ein so gutes Image hat. Tausende Mitarbeiter kümmern sich oft mit großem Einsatz um sehr viele Kinder, die aus prekären Verhältnissen kommen und nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können. Es existiert aber offenbar auch eine zweite Welt, von ihr weiß kaum jemand. In ihr soll es Mädchen und Jungen nicht gut gegangen sein, obwohl sie in einem Kinderdorf lebten. Sie sollen zu Beginn der 2000er-Jahre unter körperlicher und psychischer Gewalt gelitten haben. Es sei ihnen "Leid widerfahren", räumt der Verein ein und verspricht Besserung.

Wie groß und wie dunkel ist diese unbekannte SOS-Welt?

Ehemalige Bewohner eines SOS-Kinderdorfes in Deutschland erheben schwere Vorwürfe gegen zwei Frauen, die als sogenannte Kinderdorfmütter tätig waren. Sie sollen in ihren Kinderdorffamilien mit überzogenen Regeln und Strafen ein Klima der Angst unter den ihnen anvertrauten Mädchen und Jungen geschaffen haben. Berichtet wird von Einsperren im Keller oder vom Schlafen ohne Matratze auf einem Lattenrost. Eine der Frauen soll auch die Schamgrenzen der Kinder regelmäßig verletzt haben. Zudem gibt es Hinweise auf ein Versagen des Kinderschutzsystems: Mehrere Mitarbeitende in dem betroffenen Kinderdorf sollen von den Methoden zumindest teilweise gewusst haben, eingegriffen hat offenbar niemand.

SZ PlusGewalt in der katholischen Kirche
:In Herrgotts Namen

Michaela Huber leitet die Kommission zur Aufarbeitung des Missbrauchs in der Münchner Erzdiözese. Sie engagiert sich für Betroffene und fordert eine Geste der Demut von den Bischöfen.

Von Bernd Kastner

Der Verein SOS-Kinderdorf hat am Freitag diese Vorwürfe, die sich auf die Zeit zwischen den frühen 2000er-Jahren und etwa 2015 beziehen, selbst veröffentlicht. Ein früherer Bewohner des Kinderdorfs berichtet der SZ, dass er 10 000 Euro erhalten habe - SOS-Kinderdorf nennt dies "Zahlung in Anerkennung des Leids". Dieser junge Mann hat im Sommer Strafanzeige gestellt. Laut einem Sprecher der zuständigen Staatsanwaltschaft habe man die Polizei mit Ermittlungen beauftragt.

Es waren ehemals Betreute selbst, die sich im vergangenen Jahr an die Anlaufstelle "für kindeswohlgefährdende Grenzüberschreitungen" im Verein wandten und erzählten. Daraufhin beauftragte die SOS-Leitung im Oktober 2020 den Münchner Sozialpsychologen Heiner Keupp, 78, emeritierter Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität und renommierter Experte für die Aufarbeitung von Missbrauch, mit einer Untersuchung. Sein Ende August fertiggestellter Bericht umfasst gut 80 Seiten, veröffentlicht wurde eine Zusammenfassung von sieben Seiten.

Darin skizziert Keupp, was ihm ehemalige Kinderdorfkinder berichtet hätten. In einer Familie hätten die Kinder beispielsweise beim Essen nicht trinken dürfen; taten sie es doch, habe ihre Kinderdorfmutter sie an den Haaren gepackt und ihre Köpfe aneinandergeschlagen. Selbst bei kleinen Regelverstößen sei Kindern die Matratze weggenommen worden, sie hätten auf dem Lattenrost schlafen müssen. Wenn Kinder nicht aufaßen, sei es vorgekommen, dass die Reste püriert worden seien, das Ergebnis habe dann getrunken werden müssen.

Über den Alltag in der anderen damaligen Kinderdorffamilie schreibt Keupp: "Angst zu schüren, war ein bevorzugtes Mittel, um Kinder zu disziplinieren." So sei etwa mit dem Krampus, der "böse Kinder" mitnehme, gedroht worden. Rund um die Mahlzeiten seien von der Mutter zahlreiche "Zwangsmaßnahmen verfügt" worden. Eine Strafe sei gewesen, dass die Kinder oft auf einer der untersten Stufen der Kellertreppe hätten sitzen müssen, eine Steigerung sei das "Eingesperrtwerden in den Heizungskeller bei ausgeschalteter Beleuchtung" gewesen. Ohrfeigen und auch an den Haaren ziehen hätten "zum Erziehungsrepertoire" gehört.

Zu Geburtstagen und Weihnachten seien Geschenke vorenthalten worden. In dieser Familie soll die Kinderdorfmutter zudem die Schamgrenzen der Kinder überschritten haben. Dies soll bei Wasch- und Duschritualen geschehen sein. Das ehemalige Kinderdorfkind, das die Anzeige gestellt hat, bestätigt der SZ die Vorwürfe. Seine Erinnerungen hat der junge Mann auf sechs Seiten zusammengeschrieben, sie liegen der SZ vor.

Über die Häufigkeit der Vorkommnisse macht Keupp in seinem Bericht keine Angaben. Er gehe aber davon aus, dass die Strafen regelmäßig verhängt worden seien, sagt er auf Nachfrage. Fünf Personen habe er interviewt, die in der fraglichen Zeit in den beiden Familien lebten; zudem habe er mit drei weiteren ehemals Betreuten und 30 anderen Personen aus dem Verein gesprochen, zudem Gesprächsprotokolle und den Bericht des jungen Mannes ausgewertet.

Newsletter abonnieren
:München heute

Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.

Keupp sowie der Verein werten die Berichte der Befragten als glaubhaft. "Die Befundlage zu den beiden Kinderdorfmüttern ist eindeutig", schreibt Keupp. Er und auch SOS werten die berichteten Straf maßnahmen als kindeswohlgefährdend. Die Vorwürfe seien auch von damaligen Mitarbeitern in dem betroffenen Kinderdorf in Gesprächen mit ihm "eingeräumt und bestätigt" worden, so Keupp.

Zu den beiden beschuldigten Frauen finden sich keine näheren Angaben in der veröffentlichten Zusammenfassung, auch fehlt eine Stellungnahme von ihnen. Beide arbeiten nach SZ-Informationen seit rund zehn Jahren nicht mehr für SOS-Kinderdorf. Die eine soll mit einem Aufhebungsvertrag, die andere regulär in Rente gegangen sein. Laut Keupp ist eine der beiden Frauen nicht erreichbar gewesen; mit der anderen habe es ein Gespräch gegeben, dabei sei es aber "nicht möglich" gewesen, "die konkreten Geschehnisse und Anschuldigungen zu thematisieren". Somit fehlt bisher die Darstellung des Lebens in den Kinderdorffamilien aus Sicht der beiden Frauen. Die SZ verzichtet darauf, das im Fokus stehende Kinderdorf zu nennen, um die Persönlichkeitsrechte der Betreuten und der Frauen zu wahren.

Der Keupp-Bericht ist für den bundesweit tätigen Verein SOS-Kinderdorf von großer Brisanz. Bekannt ist der Verein vor allem für seine Kinderdörfer, wo sich meist Frauen als Kinderdorfmütter intensiv um Mädchen und Buben aus prekären Verhältnissen kümmern; sie leben mit ihnen zusammen, als wären es ihre eigenen Kinder. Der Beruf gilt als sehr herausfordernd und belastend. Diese Leistung hat den Verein geprägt und bekannt gemacht. Dass längst weitere Bereiche hinzugekommen sind, seien es Mehrgenerationenhäuser, Familienzentren oder ambulante Angebote, sei es Hilfe für Geflüchtete oder für Menschen mit Behinderung, wird von der Öffentlichkeit längst nicht so wahrgenommen wie die Arbeit der Kinderdörfer. Alles zusammen hat die Reputation von SOS wachsen lassen.

Und nun dieser dunkle Schatten. Während die Mehrzahl der bekannt gewordenen Fälle von Gewalt in der Jugendhilfe in den 1950er- bis 1970er-Jahren zu verorten ist, betreffen die Berichte aus dem einen SOS-Kinderdorf die jüngste Vergangenheit, als Kinderrechte längst etabliert waren, auch bei SOS. Deshalb, so ist zu hören, fragen sich jetzt auch viele entsetzte SOS-Mitarbeitende: Wie konnte das bloß passieren? Bei uns, in einem unserer Kinderdörfer?

SZ PlusMissbrauch in Heimen
:"Sie verprügelten mich mit allem, was irgendwie greifbar war"

Er wurde erniedrigt, geschlagen und vergewaltigt. Was Peter Vogt als Junge in einem Heim der Stadt München ertragen musste, prägte auch sein Leben als Erwachsener. Jetzt will er Gerechtigkeit.

Von Bernd Kastner und Rainer Stadler

Zwar wirkt der Ausschnitt der Keupp-Untersuchung - das eine Dorf, die zwei Familien - ob der Größe von SOS punktuell und verschwindend klein. Und doch stellt sich die Frage, ob Keupp mit seinem Hinweis auf systemische Mängel womöglich ins Schwarze trifft. Wie gut funktioniert das Schutzsystem bei SOS? Keupp würdigt die Leistungen des Vereins, die Qualitätsstandards für die pädagogische Arbeit bei SOS und die Fortschritte beim Kinderschutz. Zugleich attestiert er dem Verein ein "Transferdefizit" im untersuchten Kinderdorf: Die Vorgaben seien "nur bedingt" umgesetzt worden. Es müsse ein "Lernprozess" folgen, Schutzkonzepte müssten so weiterentwickelt werden, dass sie "auch in den Alltag des Kinderdorfes hineinwirken". Er empfiehlt eine "systematische Fehleranalyse" und den "Aufbau eines fachlich abgesicherten Beschwerdemanagements".

"Ich bedauere zutiefst, dass den uns anvertrauten Kindern Leid widerfahren ist"

Alarmierend ist der Keupp-Bericht auch deshalb, weil er darauf hindeutet, dass mehrere SOS-Mitarbeitende in dem betroffenen Kinderdorf von den Methoden der beiden Frauen zumindest teilweise wussten, oder eine Ahnung gehabt haben müssten. Anders wäre kaum zu erklären, dass sie heute laut Keupp die Berichte der ehemaligen Bewohner zumindest im Kern bestätigen. Offenbar ist damals niemand eingeschritten, um die Kinder zu schützen. Keupp berichtet im Gespräch mit der SZ, dass einmal sogar zwei Kinder abends zu Hause ausgebüxt seien, bei einem SOS-Mitarbeiter im Dorf geklingelt und um Hilfe gebeten hätten. Das alles wirkt, als hätten in diesem Dorf Schutzmechanismen weitgehend versagt.

Sabina Schutter, 44, trägt zuvorderst die Verantwortung für Aufklärung und Aufarbeitung. Die Pädagogik-Professorin leitet seit März als Vorstandsvorsitzende hauptamtlich den Verein mit bundesweit rund 4600 Mitarbeitenden und wählt in einem Statement klare Worte: "Ich bedauere zutiefst, dass den uns anvertrauten Kindern Leid widerfahren ist." Sie sei "erschüttert". Sie und ihre Vorstandskollegen hätten sich bei den Betroffenen entschuldigt, man erkenne ihr Leid an. Schutter spricht von einer "Lücke zwischen Theorie und alltäglicher Praxis", die es in dem untersuchten Kinderdorf beim Kinderschutz gegeben habe.

Es sei nicht gelungen, die etablierten Standards und Richtlinien lückenlos umzusetzen. "Wir müssen als Organisation noch besser hinhören. Ein wirksamer Kinderschutz basiert auf einer Kultur des Hinhörens vor Ort." Kinder bräuchten verlässliche Ansprechpartner. "Sie müssen sicher sein, dass ihre Beschwerden gehört werden und Konsequenzen haben."

Ausdrücklich dankt Schutter den ehemaligen Kinderdorfkindern "für ihren Mut", sich beim Verein zu melden. Ehemals Betreute hätten in dem Fachbeirat mitgearbeitet, der die Keupp-Untersuchung begleitet habe. Als Konsequenz kündigt Schutter an, dass man in der SOS-Zentrale eine neue Stelle für Kinderschutz direkt beim Vorstand schaffen werde, zudem solle eine Hotline für aktuelle Anliegen geschaltet werden.

Heiner Keupp weist mit seinen zwölf "Empfehlungen" in seinem Bericht indirekt auf weitere Versäumnisse hin: Die ganze SOS-Geschichte seit Gründung müsse in Bezug auf Missbrauch untersucht werden. Es sei eine "historische Aufarbeitung notwendig, die uneingeschränkten Zugang zu den Vereinsarchiven bekommen sollte". Er rät zu einer unabhängigen Aufarbeitungskommission. Bislang gibt es lediglich eine oberflächliche Untersuchung von "Unrechtshandlungen" von 1956 bis 1975. Seither hätten sich laut SOS 52 Menschen gemeldet, 21 hätten "Anerkennungszahlungen" wegen erlittenem Missbrauch erhalten, bis zu 10 000 Euro pro Person. Angaben zur ausgezahlten Gesamtsumme macht der Verein nicht.

SOS-Chefin Sabina Schutter kündigt im Gespräch mit der SZ an, dass der Verein im Rahmen der Weiterentwicklung seines Schutzkonzepts die SOS-Geschichte umfassend auf Unrecht an Kindern untersuchen wolle. Dabei müsse das Vorgehen sorgfältig geplant werden, um die Belange ehemaliger Kinderdorfkinder und anderer Betreuter zu schützen.

© SZ vom 09.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Pandemie
:Last auf den Kinderseelen

Einer Studie zufolge haben sich Ängste und Depressionen während der Pandemie in der jungen Generation verdoppelt. Mädchen und ältere Kinder waren am häufigsten betroffen.

Von Berit Uhlmann

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: