Münchner Momente:Helden in Jogginghosen

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Veranstalter versprechen wieder ausschweifende Silvesterfeiern. Doch die stürmischen Zwanzigerjahre lassen wohl noch länger auf sich warten. Ebenso wie epochale Romane über unsere Zeit.

Von Andreas Schubert

Kurz vor dem Advent trudeln allmählich auch wieder die Einladungen zu Silvesterpartys in München ein. Ein Glitzerevent hier, eine wilde Sause da, und natürlich alles standesgemäß teuer: Die Veranstalter machen einem derzeit die Hoffnung, dass die "Roaring Twenties", also die stürmischen Zwanzigerjahre, jetzt mit ein wenig Verspätung doch noch anfangen. Denn bisher war das Jahrzehnt ja eher kein Brüller, sondern ein ziemlicher Rohrkrepierer. Mit "stürmischen" oder gar "wilden" Zwanzigern assoziierte man im 21. Jahrhundert bislang nur Flaschen werfende Jungspunde im Englischen Garten oder Autoposer mit aufgebohrtem Auspuff auf der Leopoldstraße. Otto-Normalmünchner und Normalmünchnerin kam sich dagegen schon verwegen vor, wenn er oder sie mal die Sperrstunde riss oder sich traute, ein Bier im Abstand von weniger als 50 Metern zum Kiosk zu zischen.

Während man dann das vergangene Silvester daheim in Jogginghose und Wollsocken verbrachte, werden nun für Veranstaltungen Dresscodes ausgerufen wie "elegant mit einem Hauch von Gold" und Werbetexte verschickt, die "goldenen Konfetti-Regen" versprechen und "eine ausschweifende Party, zu der auch Jay Gatsby sicherlich gerne gekommen wäre". Prosa wie diese zeigt, dass die Veranstalter das Träumen noch nicht verlernt haben, auch wenn in München aktuell alles wieder auf einen Jahreswechsel in Jogginghose hindeutet.

Apropos "Der große Gatsby": Der berühmte Protagonist aus F. Scott Fitzgeralds Klassiker wird heute als das Feierbiest schlechthin verehrt, obwohl zunächst kaum jemand was über ausufernde Partys eines seltsamen Millionärs wissen wollte und die Kritiker bei der Story nur gähnten. Ihnen war dieses ganze Gedöns um ihr ach so dekadentes Jahrzehnt einfach zu blöd. Kommt schon mal vor, dass man irgendwann nichts mehr von der Zeit, in der man gerade lebt, lesen will und erst spätere Generationen das Epochale einer Geschichte erkennen. Bücher mit Titeln wie "La Boum, die Streaming-Fete" oder "Die zehn Abstandsgebote" würden heute sicher auch in den Regalen vergammeln, könnten in den 2040ern aber ein Klassiker sein. Aber das lässt sich heute ja noch nicht sagen, das Genre des Jogginghosenromans ist momentan noch recht jung.

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