München:Schlussakkord

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Mehr als 40 Jahre existierte das "Wohnhaus für Musikfreunde" nahe dem Werksviertel quasi im Verborgenen. Mit dem Tod des Gründers hat für die Mieter eine Zeit des Bangens begonnen. Jetzt hat der neue Eigentümer der Anlage den Künstlern die Übungsräume gekündigt

Von Jutta Czeguhn

Noch fehlen ein paar Stühle, langsam aber füllt sich das Zimmer. Sie haben den Übungsraum von Sigrid Reisbeck gewählt, weil er den meisten Platz bietet. Die Pianistin hat ihn reduziert eingerichtet. Ein Klavier, ein stilvoller Leuchtsessel, ein abstraktes Gemälde. Nun sitzen sie alle im Kreis, wie in einer Therapiegruppe. An diesem Vormittag schwankt die Stimmung zwischen Bangen und Hoffen, wie so oft in diesen Wochen in der Wohnanlage an der Buchbacher Straße 10 nahe dem Werksviertel. Seit sie im vergangenen Jahr erfahren haben, dass der Eigentümer der Immobilie verstorben ist und der Verkauf ansteht, sind sie näher zusammengerückt im "Wohnhaus für Musikfreunde". In den 26 Apartments und den neun Übungsräumen im Kellergeschoss leben oder arbeiten Berufsmusiker, Musiklehrer und -studenten aus aller Welt, was in München einmalig sein dürfte. Nun hoffen sie, dass auch der mittlerweile neue Eigentümer - die Pöttinger Wohn- und Industriebau GmbH & Co. KG - diese Besonderheit wertschätzt. Und vor allem die Kündigungen für die Übungsräume zurücknimmt, die inzwischen eingegangen sind. Die Mieter, alles Freischaffende, würden ihre Arbeitsstätten verlieren.

Auf der Klingelanlage des Siebzigerjahre-Baus mit den wuchtigen Betonbalkonen stehen viele Namen, jedoch nur ein einziger mit Titel: Dr. Carl Siegl. "Der alte Herr Siegl hatte bis zuletzt ein Apartment im zweiten Stock", erzählt Sigrid Reisbeck. Sie selbst wohnt seit 2000 im Musikerhaus, ihren Übungsraum im Keller hat sie schon seit 1997 gemietet. Die Pianistin war es auch, die eher zufällig vom Tod des Vermieters erfahren hat, als sie vergangenes Jahr dessen Erben traf, der gerade dabei war, jemanden durchs Haus zu führen. Carl Siegl, der Gründer des Musikerhauses, war am 15. Februar 2018 im Alter von 86 Jahren verstorben. Für seine Mieter an der Buchbacher Straße 10 war es eine traurige Nachricht - und der Beginn einer Zeit der Ungewissheit.

Gerit Lense (schwarzer Flügel) übt mit ihrer Schülerin Tineke Van der Eijk. (Foto: Jan Staiger)

Es ist nicht einfach, Genaueres über den Menschen Carl Siegl und über seine Motive, das Musikerhaus zu gründen, in Erfahrung zu bringen. Er sei ein "Mann mit Visionen" gewesen, heißt es in der Todesanzeige der Stadt Kulmbach, denn dort im Oberfränkischen war der gebürtige Münchner von 1975 bis 1994 Stadtbaudirektor und eine offenbar sehr "geschätzte und beliebte Persönlichkeit". Aus anderen Nachrufen erfährt man, dass er zunächst das Maurer- und Zimmerer-Handwerk erlernt hat, in den Fünfzigerjahren an der Akademie für Bautechnik studiert hat und später als Diplom-Architekt auch einmal eine Zeit in Südafrika verbrachte. Auf einem Schild im Garten der Buchbacher Straße 10, das "Apartments, Hobbyräume, Garagen" zur Miete anbietet, sieht man Carl Siegls Initialen, kunstvoll verbunden durch einen Notenschlüssel. Heinz Lebermann, Inhaber eines Noten-Geschäfts in Haidhausen, erinnert sich, wie einmal ein Herr in seinem Laden stand und fragte, ob er einen Zettel ans Schwarze Brett heften dürfe. Er habe da dieses Haus für Musiker. "Er hat dieses Haus geliebt", sagt Claudia Gehrke-Trindade. Die Sängerin und Gesangslehrerin kann sich noch gut an einen Anruf von Carl Siegl erinnern. 2010 hatte sie verzweifelt nach einem Übungsraum gesucht. Der Architekt hatte ihr Zeitungsinserat gelesen und ihr am Telefon verkündet: "Jetzt haben Sie einen Sechser im Lotto!"

Als Lottogewinn empfinden alle in der Runde in Reisbecks Kellerraum das Haus für Musiker, und sie haben Angst, dass ihnen dieses Geschenk nun, nach der Kündigung der Übungsräume, genommen wird. Da ist Gerit Lense, seit 1999 hat sie ihren Übungsraum gemietet. Wer die Pianistin an einem normalen Unterrichtsnachmittag dort besucht, darf an einem ihrer beiden Flügel Platz nehmen. Lense probt dort für ihre Konzerte als Solistin, Kammermusikerin und Liedbegleiterin. "Laut Mietvertrag kann man hier von 8 bis 22 Uhr üben", sagt sie. "Für mich persönlich ist das Gefühl wichtig, niemanden zu stören, das ist eine ganz große Befreiung." Lense spricht von einem "Biotop", einer kreativen Atmosphäre wie an der Musikhochschule. Im Kellergeschoss probt gerade jemand Saxofon, und von nebenan hört man Piano-Klänge. Vor der Tür wartet schon Tineke Van der Eijk, eine Klavierschülerin älteren Semesters, deren Kinder schon bei Gerit Lense Unterricht bekommen haben.

Claudia Gehrke-Trindade gibt ihrer zehnjährigen Tochter Thais Gesangsunterricht. (Foto: Jan Staiger)

"Klause" nennt Anne Roth ihren Übungsraum. Als freischaffende Pianistin ist sie wie die meisten im Musikerhaus auf ihre Unterrichtstätigkeit angewiesen. Sie ist überzeugt, dass sich die spezielle künstlerische Atmosphäre im Haus nicht nur auf die Mieter, sondern auch auf die Schüler überträgt. Sie hat ihren Raum seit 2000, und wie Gerit Lense kann sie haarsträubende Geschichten davon erzählen, wie ungeheuer schwierig es für Profimusiker ist, in München Übungs- und Arbeitsräume zu finden. Wenn überhaupt, bekomme man Bruchbuden angeboten - zu horrenden Preisen, versteht sich. Im Musikerhaus liegen die Monatsmieten für die Kellerräume, je nach Größe, zwischen 153 und 195 Euro. Die Apartments, maximal 20 Quadratmeter groß, kosten zwischen 195 und 500 Euro.

Nachdem sie vom Tod Carls Siegls erfahren hatte, schwante Sigrid Reisbeck nichts Gutes, mit einem Brief wandte sie sich an die Stadtverwaltung. "Wir hoffen auf Hilfe, dass diese Rarität, das Musikerhaus, bestehen bleibt", schreibt sie am 7. Oktober 2018. Auch OB Reiter erfuhr per Post von den Ängsten der Musiker. Wie sich aus den Korrespondenzen in den folgenden Monaten mit allen möglichen kommunalen Stellen herauslesen lässt, hatte dort bis dahin noch niemand auch nur von der Existenz dieses besonderen Hauses gehört. Wie auch, schließlich hatte das Musikerhaus, dieses privates Herzensprojekt des Herrn Siegl, nie eine städtische Förderung erhalten. Aber könnte dies vielleicht in Zukunft anders sein?

Sigrid Reisbeck legt zwischen den Proben eine Lesepause in ihrem Apartment ein. (Foto: Jan Staiger)

Könnte die Stadt nicht ihr Vorkaufsrecht geltend machen und das Musikerhaus unter ihre kommunalen Fittiche nehmen? Das war ein Gedanke, ein möglicher Rettungsweg, mit dem die Musiker nun die Behörden konfrontierten. Auch der örtliche Bezirksausschuss war verständigt und überrascht, welches Juwel man da all die Jahrzehnte hatte, ohne davon zu wissen. Die Musiker appellierten an das Gremium, sich "als Schaltstelle zwischen Bürger und Politik" für sie einzusetzen, was auch geschah.

Von der Politik bekamen die Musiker dann aber keine guten Nachrichten. Das Kommunalreferat, zuständig für die Ausübung eines Vorverkaufsrechts, ließ vom Planungsreferat prüfen, ob es dazu nach dem Baugesetzbuch eine Grundlage gebe. Liegt doch das Grundstück Buchbacher Straße 10 im Bereich einer geltenden Sanierungssatzung. Doch die Prüfung ergab: keine Chance. Fragt man im Kommunalreferat nach, hört man von Sprecherin Birgit Unterhuber ehrliches Bedauern: "Es ist sehr schade, dass der Verstorbene sein Erbe nicht entsprechend durch eine Stiftung oder Ähnliches gesichert hat. Der Bedarf an Wohnraum und Musikprobenräumen ist hoch."

Die Noten der Musiker auf dem Klavier der Musiklehrerin Anne Roth. (Foto: Jan Staiger)

Am 15. Dezember 2018 bewahrheiteten sich für die Mieter der Übungsräume und für zwei Apartmentmieter ihre Befürchtungen: "Namens und im Auftrag des Hauseigentümers kündigen wir hiermit das oben erwähnte Mietverhältnis vertragskonform und fristgerecht zum Ablauf", schreibt die Hausverwaltung, die einst Carl Siegl mit seinen Rechtsgeschäften bevollmächtig hatte, an Sigrid Reisbeck. Nebst Schlüssel habe sie bis 31. März ihren Übungsraum besenrein an den Hausmeister zu übergeben. Reisbeck und die anderen Betroffenen haben mittlerweile durch ihre Anwälte den Kündigungen widersprochen, mit Verweis auf einen Formfehler der Hausverwaltung. War doch zum Zeitpunkt der Kündigung die Pöttinger Wohn- und Industriebau GmbH & Co. KG - zumindest bei den Mietern - noch nicht als neuer Eigentümer in Erscheinung getreten und, so vermuten sie zumindest, auch noch nicht im Grundbuch eingetragen. Die Musiker haben inzwischen eine Mietergemeinschaft gegründet und sich auch von einem Mieterverein beraten lassen.

Mittlerweile korrespondiert der Investor mit seinen Mietern direkt. Am 12. März 2019 etwa bekamen die Musiker ein Schreiben mit der Einladung zu einem Gespräch im Haus für Mittwoch, 27. März. Und der Versicherung Pöttingers, "dass in nächster Zeit weder Kündigungen der Wohnungen, noch der Abriss des Hauses oder Sanierungsarbeiten vorgesehen sind". Eine Aussage, welche Franz Josef Weigand, bei Pöttinger Prokurist und für die Projektentwicklung zuständig, auf Anfrage der SZ bestätigt. Er bekräftigt jedoch die Kündigung der Übungsräume: "Wir benötigen die Souterrain-Räume dringend für die Einrichtung unseres eigenen Baubüros, das wir für die anstehende Baumaßnahme am Nachbargrundstück, der Mühldorfstraße 37, hier unterbringen werden." Niederschmetternd für die Musiker. Sie haben Schülerverträge laufen und wissen nicht, wo sie mit ihren Arbeitsgeräten, den Instrumenten, nun hin sollen. Was die Musiker im Haus an der Buchbacher Straße aber noch hoffen lässt, ist der Termin am Mittwoch. Und die Gespräche, die zwischen Pöttinger und dem Vorsitzenden des Bezirksausschusses Berg am Laim, Robert Kulzer, im Hintergrund stattgefunden haben. Der Investor soll durchaus Verständnis für die Situation der Musiker gezeigt haben.

Blick von außen auf das Haus für Musiker in Berg am Laim. (Foto: Jan Staiger)

Die Gruppe im Stuhlkreis in Sigrid Reisbecks Kellerraum freut sich auch über Solidarität anderer Musiker. Nils Mönkemeyer, Bratschist von Weltrang und ehemaliger Mieter, hat geschrieben: "Das Haus in der Buchbacher Straße ist und war auch für mich das perfekte internationale Haus für den Start ins Musikerleben - erschwinglich und zentral, mit Übemöglichkeiten Tag und Nacht. Hier entstehen Freundschaften zu Musikern aus aller Welt."

© SZ vom 25.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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