München:Porridge als GPS

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Die Künstlerin Heather Barnett arbeitet mit einem cleveren Schleimpilz, der Haferflocken liebt

Von Jutta Czeguhn

Es liebt Haferflocken. Es mag kein Licht, bevorzugt feuchte Dunkelheit. Es bewegt sich maximal einen Zentimeter in der Stunde und erkundet trotzdem ausschweifend neugierig die Welt. Es ist ein Netzwerker qua Natur. Setzt man es in ein Labyrinth, dann wird es unter Garantie den kürzesten Weg zum Ausgang finden. Es ist intelligent, hat aber weder ein Gehirn noch ein zentrales Nervensystem. Bei alldem: Es ist bezaubernd schön.

Wenn Heather Barnett von Physarum polycephalum, einem Schleimpilz, spricht, liegt viel Sympathie in ihrer Stimme; beigemengt ist eine Prise Ironie, denn schließlich ist sie Britin. Es ist, als würde die Künstlerin von einem lieben, alten Freund erzählen, einem Kumpel mit sehr vielen Talenten. "It can ..., it is ..., it has ..." Bei ihr ist der Pilz ein Neutrum. Vor ihr im Stuhlkreis sitzen etwa 20 Menschen, sie haben ihre Jacken anbehalten. Es ist ein regnerischer Tag, bestes britisches Wetter, und deshalb ein wenig klamm im Maximiliansforum unter dem Münchner Altstadtring. Barnetts Zuhörer sind Teilnehmer eines ungewöhnlichen Workshops. Sie machen zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem gelbleuchtenden Schleimpilz, einem Organismus, der sich aus vielen Einzellern zusammensetzt, weshalb ihm Barnett eine "Identitätskrise" attestiert. Sie hat ihn im Koffer aus London mitgebracht. Natürlich gut aufgehoben in einem Plexiglasbehälter, mit einer ordentlichen Portion Porridge als Wegzehrung. Weder am Check-in in Heathrow noch am Münchner Zoll habe Physarum polycephalum Irritationen ausgelöst, erzählt sie. Warum auch, schließlich sei er ja kein biologischer Kampfstoff, sondern ein harmloses Wesen mit allerdings erstaunlichen Verhaltensweisen.

Mit ihrem Interesse für die komplexen Strukturen der Biologie bewegt sich HeatherBarnett auf internationalem Terrain. (Foto: A.Uhlig/oh)

Nach München geholt hat Barnett und ihren Schleimpilz der "Arbeitskreis zur Resozialisierung von gemeinem Grün", eine Gruppe von Künstlern und Wissenschaftlern, die zu neuen Wahrnehmungsformen der Stadt herausfordert. Mit ihrer Reihe "Stadtdurchstreifungen" wollen Rasso Rottenfusser, Susanne Schmitt, Anja Uhlig und Katharina Weishäupl in den kommenden Wochen die Perspektive "auf Wildheit, Ordnung, Avantgarde und Chaos" in München lenken. Im zweitägigen Workshop von Heather Barnett ging es nun für die Teilnehmer darum, München als Super-Organismus zu begreifen, in dem sie sich als Einzelne oder im Kollektiv bewegen - wie der Schleimpilz in seiner Petrischale. Vor allem ganz aus einer nichtmenschlichen Perspektive heraus, was sich ebenso schwierig wie unterhaltsam gestaltete. Als Stimulus gab es für sie zwar kein Porridge, dafür aber jede Menge heißen Tee.

Schleimpilz- Experimente mit Heather Barnett. (Foto: A. Uhlig/privat)

Heather Barnett ist eine Künstlerin, die sich schon lange an der Schnittstelle zwischen Kunst und (natur-)wissenschaftlichen Prozessen aufhält. Sie arbeitet nicht nur mit Physarum polycephalum, auch Pflanzen, Bakterien, Fruchtfliegen und Tintenfische sind Kollaborateure ihrer künstlerischen und biosozialen Experimente. Mit ihrem Interesse für die komplexen Strukturen der Biologie bewegt sich Barnett auf internationalem Terrain; für die Central Saint Martins University of the Arts London arbeitet die Künstlerin mit dem Tokyo Institute of Technology zusammen. Interdisziplinär erkundet man, was Kunst und Wissenschaft voneinander lernen können. Dem Schleimpilz und seiner Fähigkeit, auf der Suche nach Nahrung Räume höchst effizient zu durchqueren, gilt besonderes Interesse. Heather Barnett nennt ihn "einen biologischen Computer" und ist überzeugt, dass sich von ihm einiges lernen lässt für die Bionik, in der sich Biologie und Technik verbinden.

Die Workshop-Gruppe sollte das Verhalten des Schleimpilzes imitieren. (Foto: A. Uhlig/privat)

So erfuhr die Workshop-Gruppe im Maximiliansforum von einem Schleimpilz-Experiment, mit dem Forscher Netzwerke wie etwa die Verkehrsinfrastruktur evaluieren: Ein japanischer Wissenschaftler hatte den Organismus auf eine Petrischale ausgesetzt, die nach dem Vorbild der Region Tokio modelliert und mit Haferflocken an den zentralen Plätzen der Metropole besetzt war. Das gefräßige Physarum polycephalum wuchs sich zu einem wuchernden Flechtwerk zwischen diesen Punkten aus, um sich dann selbst einzudämmen und nur auf die kürzesten Wegeverbindungen zwischen den Punkten zu konzentrieren. Diese entsprachen nahezu exakt dem öffentlichen Transportnetz Tokios.

Für die Teilnehmer war das vorübergehende Dasein als Schleimpilz eine erstaunliche Erfahrung. (Foto: A. Uhlig/privat)

Wohin würde das Haferflocken-GPS den Schleimpilz in München führen? Mit dieser Frage und Stadtplan-Kopien der näheren Umgebung schickte Barnett die Teilnehmer los. In kleinen Gruppen sollten sie quasi eine effiziente (Schleim-)Spur ziehen, durch das Lehel oder die Maximilianstraße mäandern. Während die humanoiden Varianten von Physarum polycephalum mit Regenschirm und wasserfesten Schuhen unterwegs waren, schuf Barnett für sie im Maximiliansforum ein Laboratorium auf Biertischen, der Schleimpilz wartete schon ungeduldig in seiner Schale. Hungrig, denn die Künstlerin hatte ihn auf Diät gesetzt. Die Rückkehrer mussten dann ihre Wege auf Stadtplan-Ansichten in quadratische Petrischalen übertragen, in die dann später kleine Schleimpilz-Kulturen beheimatet wurden. Um den Organismus darauf quasi zu leiten, etwa längs der Thierschstraße zum Museum Fünf Kontinente, gab es für den Pilz Mittel zur Abwehr und zur Anziehung: Haferflocken und eine dieser süßlichen britische Soßen liebt er, mit Salz kann man ihn hingegen jagen. Bei Chili-Pulver ist er laut Barnett noch etwas unschlüssig. Damit endete das Experiment und der erste Tag, die gelben Schleimknödel in den Schalen hatten zu ruhen und zu wachsen.

Dem Schleimpilz und seiner Fähigkeit, auf der Suche nach Nahrung Räume höchst effizient zu durchqueren, gilt besonderes Interesse. (Foto: Czeguhn/oh)

Am Tag zwei des Workshops konnten die Teilnehmer begutachten, ob sich der Pilz an die vorgegebenen Routen gehalten hatte, was nicht durchgehend der Fall war, scheint in dem Wesen doch viel eigensinnige Energie zu stecken. Dann ging es für die Gruppe wieder an die Oberfläche, sie sollten die Versuchsanordnung von Anziehung und Abstoßung auf der Maximilianstraße wiederholen, durch irritierende Eingriffe in den öffentlichen Raum: mit Blätterhaufen, die den Gehsteig verengten und den Lauf der Shopper lenken. Und dann die schwierigste Übung: Die Gruppe sollte selbst zu einem einzigen, großen Zellhaufen werden und sich so durchs Maximiliansforum bewegen. Mit geschlossenen Augen, ohne Hände oder Sprache zu verwenden. Ohne Egos oder Hierarchien.

Für die Teilnehmer war das vorübergehende Dasein als Schleimpilz eine erstaunliche Erfahrung, die Fragen aufbrachte über Kommunikation und Kooperation, über Kollektiv und Individuum im Super-Organismus Stadt. Für einen Mann, der zufällig die Unterführung passierte, war der Anblick des kichernden, chaotischen Menschenhaufens offensichtlich ein ganz normales urbanes Phänomen; er machte ein Foto und ging ungerührt seines Weges.

Näheres auf der Website des Slime Mould Collective unter www.slimoco.ning.com

© SZ vom 15.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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