Obdachlosigkeit und Tod:Für einen würdigen Abschied am Ende eines einsamen Lebens

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Der Verein Biss pflegt auf dem Ostfriedhof ein Grab für Obdachlose. (Foto: Robert Haas)

Wenn obdachlose Menschen in München sterben, haben sie häufig niemanden, der sich um die Beerdigung kümmert. Doch es gibt Organisationen, die das ändern wollen - und die ihrer gedenken.

Von Kathrin Aldenhoff

Sie lesen die Namen langsam vor. Jeder Name steht für einen Toten, für eine Tote. Für einen Mann oder eine Frau, die oft Jahre auf der Straße gelebt haben. Für einen Menschen, der, so sagt es eine Rednerin während des Gottesdienstes, eine Weile seines Lebens "ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne Hoffnung" war. Und für jeden zünden sie eine Kerze an. Das dauert, 95 Namen sind es, 13 Frauennamen, 82 Männernamen, die in der Kirche St. Markus vorgelesen wurden. Diese Männer und Frauen sind in den vergangenen zwölf Monaten gestorben.

Es ist ein Abend für die Menschen, "die keine Bindungen mehr in der Gesellschaft haben. Für die am Totensonntag niemand eine Kerze anzündet", so sagt es Stadtdekanin Barbara Kittelberger in ihrer Ansprache. Ihrer wollen die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen, die sie betreut haben, und die Menschen, die mit ihnen gelebt haben, an diesem Abend gedenken. Als alle Namen verlesen sind, wird noch eine Kerze angezündet. Für diejenigen, die gestorben sind, und deren Name nicht genannt wurde. Weil auch die Streetworker und die großen Hilfsorganisationen für Obdachlose in der Stadt nichts von ihrem Tod wissen.

Organisationen, die sich in der Obdachlosenhilfe engagieren, gestalten in der Kirche St. Markus eine Trauerfeier für 95 verstorbene wohnungslose Münchner. (Foto: Robert Haas)

Mitarbeiter der Obdachlosenhilfe schätzen, dass etwa 800 bis 900 Menschen in München auf der Straße leben. Dazu kommen die Menschen, die wohnungslos sind, also zum Beispiel in einem Wohnheim für Obdachlose leben. Wie viele von ihnen jedes Jahr sterben, dazu gibt es keine Zahlen, niemand führt hier eine Statistik. Ralf Horschmann vom Katholischen Männerfürsorgeverein sagt, es seien wahrscheinlich mehr als die 95, deren Namen vorgelesen wurden.

Es sei selten, dass jemand auf der Straße sterbe, sagt Franz Herzog, Leiter der Teestube Komm, einem Treffpunkt für Obdachlose vom Evangelischen Hilfswerk. Sein Stellvertreter Christof Lochner ergänzt: "Oft merken die Menschen, sie können nicht mehr, und sind dann bereit, in ein Wohnheim zu ziehen." Manche sterben dann nach wenigen Wochen oder Monaten, sagt Franz Herzog. "Bei vielen brechen dann, wenn die Lebensumstände es erlauben, lange verschleppte Krankheiten aus."

"Wenn einer lange Stammgast bei uns war, gibt es viel Anteilnahme"

Menschen, die auf der Straße leben, werden oft nicht alt. Das Leben ist ein täglicher Kampf, "ein Kampf ums Überleben, um einen Schlafplatz", sagt Christof Lochner. "Das Leben auf der Straße schwächt das Immunsystem, der Körper kämpft jahrelang und braucht dafür viel Energie. Die fehlt am Ende des Lebens."

Die Mitarbeiter der Teestube kennen viele der Münchner Obdachlosen, an manchen Tagen kommen 200 Menschen in den Treffpunkt. Wer auf der Straße lebt, kann seine Post dorthin schicken lassen, kann dort duschen, seine Wäsche waschen, kann sich in der Küche etwas kochen. Oder einfach nur einen Moment in der Wärme sitzen und einen Kaffee trinken.

Im Aufenthaltsraum hängt eine Pinnwand. Wenn jemand stirbt, den sie dort kannten, dann drucken Franz Herzog und seine Mitarbeiter einen schwarz gerahmten Zettel aus. Darauf stehen Name und Todestag und, wenn das bekannt ist, auch der Termin für die Beerdigung. In diesem Jahr hatten sie fünf solcher Anzeigen dort hängen. Viele fragen dann nach, was passiert ist, sagt Franz Herzog. "Wenn einer lange Stammgast bei uns war, gibt es viel Anteilnahme."

Franz Herzog stand bei Beerdigungen von Obdachlosen schon öfter mit einem Kollegen und dem Pfarrer alleine am Grab. Er geht nicht zu jeder Beerdigung. Aber wenn er jemanden länger gekannt hat, dann tut es gut, Abschied zu nehmen, sagt er. "Je länger man jemanden gekannt hat, umso schmerzhafter ist es. Vor allem, wenn einer gerade dabei war, den Absprung zu schaffen." Wenn einer endlich einen Antrag auf Hartz IV stellen wollte, wenn einer nach vielen Jahren Beratung endlich ein Wohnheim angeschaut hat. Oft seien solche Beerdigungen sehr karg, sehr trist.

Für viele sei der Gedanke unerträglich, dass nach ihrem Tod jemand anderes für sie aufkommen muss

Am Rand des Ostfriedhofs, gleich bei den Bahngleisen, stehen drei Stelen aus Stein, 13 Namen sind eingraviert, zehn Männernamen, drei Frauennamen. Das Grab verrät nicht viel über sie. Vor allem verrät es, dass sie nicht alt wurden. Der jüngste starb mit 40, der älteste war 75 Jahre alt. Diese 13 Männer und Frauen haben in München auf der Straße gelebt und sie haben die Straßenzeitung Biss verkauft. Dass sie dort liegen, in diesem Grab, das ordentlich bepflanzt ist, mit einem Gesteck geschmückt und einem kleinen Engel, das verdanken sie Herrn Muck.

So erzählt es Johannes Denninger, Mitarbeiter des Vereins Bürger in sozialen Schwierigkeiten, kurz Biss. Als Jürgen Muck 2005 starb, da sagten die anderen Verkäufer, es wäre doch schön, wenn es einen Ort gäbe, an dem sie ihn besuchen könnten. Das sei der Anlass gewesen, eine Art Totenfürsorge zu organisieren, sagt Johannes Denninger. "Auch arme Menschen machen sich Gedanken darüber, was mit ihnen passiert, wenn sie sterben." Für viele sei der Gedanke unerträglich, dass nach ihrem Tod jemand anderes für sie aufkommen muss. Jemand aus ihrer Familie, jemand, der sie vielleicht längst vergessen hat. Oder vergessen wollte.

Deshalb übernimmt das nun Biss. Wer mindestens zehn Jahre fest angestellt die Straßenzeitung verkauft hat, der kann mit dem Verein einen Vertrag abschließen. Johannes Denninger bespricht dann mit dem Verkäufer, welche Blumen er sich bei der Beerdigung wünscht, welche Musik gespielt, was am Grab gesprochen werden soll. Biss zahlt die Beerdigung, die Gravur auf dem Grabstein, auch den Leichenschmaus und die Pflege des Grabs. Möglich macht das ein Sponsor.

Johannes Denninger ist auch zum Gedenkgottesdienst in die St. Markuskirche gekommen. Zum zweiten Mal fand der dieses Jahr statt. Ralf Horschmann vom Katholischen Männerfürsorgeverein wünscht sich, dass daraus eine Tradition wird. "Wir wollen einen würdigen Abschied für die Menschen, die nicht so viele haben, die an sie denken."

© SZ vom 28.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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