Wohnen in München:Diese Münchnerin gibt obdachlosen Frauen ein Zuhause

Wohnen in München: Sarah A. (rechts) wohnt nun in dem Zimmer, das früher der Tochter ihrer Vermieterin Azize Kizilarslan gehörte. Deren Sohn Ismail hatte die Idee, das Haus wohnungslosen Frauen zur Verfügung zu stellen.

Sarah A. (rechts) wohnt nun in dem Zimmer, das früher der Tochter ihrer Vermieterin Azize Kizilarslan gehörte. Deren Sohn Ismail hatte die Idee, das Haus wohnungslosen Frauen zur Verfügung zu stellen.

(Foto: Catherina Hess)

Als alleinerziehende Mutter wohnte Azize Kizilarslan in einer großen Doppelhaushälfte - zu groß, fand sie, um sie nach dem Auszug ihrer Kinder alleine zu bewohnen. Nun vermietet sie ihre Zimmer an Menschen, die Hilfe brauchen.

Von Anna Hoben

Ein Jahr nach ihrem Auszug kommt Azize Kizilarslan zurück in ihr Haus. Es liegt an einer breiten Straße im Osten Münchens, in der Nähe des Michaelibads: eine Doppelhaushälfte mit neun Zimmern und 230 Quadratmeter Wohnfläche. Fast zwei Jahrzehnte hat Azize Kizilarslan darin gewohnt, es war für sie viel mehr als nur ein Haus: ihr Zuhause, ihr Zufluchtsort, ihr Lebensmittelpunkt.

Hier hat sie ihre drei Kinder aufgezogen, zwei Jungen und ein Mädchen. Hier haben sie zusammen gekocht, gespielt, Weihnachten gefeiert; wenn man sie fragt, ob sie Muslime oder Christen seien, sagt Azize Kizilarslan, 49, voller Überzeugung: "Beides!". Einer der Söhne, längst kein Junge mehr, sondern ein Mann, 30 Jahre alt, zeigt in eine Zimmerecke, "da stand der Baum".

Ismail Kizilarslan begleitet seine Mutter an diesem Tag, auch sein Bruder Ibrahim, 28, ist dabei. Sie sitzen an einem Tisch im Esszimmer, hier saßen sie früher morgens zum Frühstück zusammen, und wenn sie das nicht schafften, dann auf jeden Fall zum Abendessen. Das gemeinsame Abendessen war ihnen heilig. Sie hatte sich immer eine große Familie gewünscht, deshalb hatten sie damals dieses große Haus bauen lassen, ihr Ex-Mann und sie.

Doch wenige Jahre nachdem sie eingezogen waren, ließen sie sich scheiden. Es kam dann trotzdem noch eine Art Großfamilie zusammen in dem Haus. Für ein paar Jahre zog Kizilarslans Schwester mit ihren beiden Kindern ein. Eine Wohngemeinschaft, bestehend aus zwei Müttern und fünf Kindern. Es gab ein Wohnzimmer für alle. Und es gab ein zweites, eigenes Wohnzimmer nur für die Kinder.

Es ist nicht leicht gewesen für Azize Kizilarslan, sich einzugestehen, dass ihre Kinder groß geworden sind, dass sie ihr eigenes Leben haben, dass sie das Nest verlassen wollen. Vor fünf Jahren zog Ismail aus, damals begann er ein Studium. Die Tochter, die jüngste unter den drei Kindern, verbrachte immer mehr Zeit bei ihrem Freund. Nur Ibrahim war noch da.

"Ich allein in einem so großen Haus, bei der Wohnungsnot in München, das ist doch ungerecht"

Je leerer das Haus wurde, desto größer erschien es Azize Kizilarslan. Ihr dämmerte, dass es so nicht weitergehen konnte. Auch Ibrahim würde ja wahrscheinlich früher oder später ausziehen. "Ich allein in einem so großen Haus, bei der Wohnungsnot in München, das ist doch ungerecht."

Vor ein paar Jahren hatte ihr Sohn Ismail ein Praktikum beim Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) gemacht. In Bamberg, wo er studiert, engagiert er sich seitdem in dessen Jugendmigrationsarbeit. Als sie besprachen, was mit dem Haus geschehen sollte, schwärmte er vom SkF und schlug vor, ihm das Haus zu vermieten. Seiner Mutter gefiel die Idee.

Für sich suchte sie eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Und in ihr Haus ziehen nun Frauen ein, die keine eigene Wohnung haben. Seit dieser Woche sind alle neun Zimmer belegt. Die Bewohnerinnen sind jung und alt, sie stammen aus Deutschland, der Türkei, Afghanistan, Madagaskar - es ist ein buntes Haus.

Es kommt nun eine junge Frau zur Tür herein, sie setzt sich auf einen Stuhl an den Tisch, schaut etwas schüchtern in die Runde und lächelt. "Seit wann wohnst du hier?", fragt Azize Kizilarslan. "Seit drei Tagen", antwortet Sarah A. Im zweiten Stock bewohnt sie das Zimmer, das einst Kizilarslans Tochter gehört hatte, die nur ein Jahr älter ist als die 26-jährige Sarah A.

Sie zeigt ihr Reich ihrer Vermieterin, die sie gerade kennengelernt hat: ein Bett, ein Schrank, ein Regal. Und einen weichen Teppich hat sie ausgerollt, das war ihr wichtig. Sarah A. ist geschieden, davor war sie acht Jahre verheiratet. Seit ein paar Wochen hat sie eine Arbeit, bei Woolworth. Sie ist nun dabei, sich ein eigenes Leben in München aufzubauen. Der SkF hilft ihr dabei.

Manche sind verschuldet, manche einer unglücklichen Ehe entkommen

In München gibt es rund 9000 Wohnungslose, mehr als 1000 davon sind nach einer Schätzung des Sozialreferats Frauen. 48 Plätze in Wohngemeinschaften für Frauen bietet der SkF. In einem eigenen Haus in der Innenstadt, in einem Pfarramt, in Genossenschaftsprojekten, in Häusern der städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Und nun in Azize Kizilarslans Haus. Sie ist die erste private Vermieterin.

Die Wohnplätze sind gedacht als Vorstufe zum eigenen Wohnen. Der Bedarf ist freilich deutlich größer, es gibt eine Warteliste. Gespräche mit potenziellen neuen Bewohnerinnen fänden jede Woche statt, sagt Ursula Eickert-Feierabend, sie leitet die Wohngemeinschaften beim SkF. "Wir lernen uns gegenseitig kennen, und dann entscheiden wir, ob es passt."

Die Bewerberin muss bereit sein, sich auf eine sozialpädagogische Beratung einzulassen. Dafür bekommt sie Unterstützung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche und bei der Bewältigung des Alltags. "Viele Frauen bringen Multiproblemlagen mit", sagt Eickert-Feierabend. So nennen Sozialpädagogen es, wenn ein Mensch ein schweres Paket mit sich herumträgt.

Manche sind verschuldet, manche sind einer unglücklichen Ehe entkommen, andere haben erst ihren Job und dann ihre Wohnung verloren. Manche kommen aus der Psychiatrie, andere aus dem Gefängnis. Die Helferinnen beim SkF vermitteln die Frauen an Fachstellen wie die Schuldnerberatung oder an Therapieeinrichtungen. Sie unterstützen sie beim Umgang mit Behörden und bieten Freizeitaktivitäten an.

Von oben ist Gesang zu hören. Das Haus, es ist jetzt wieder mit Leben gefüllt. Das war Azize Kizilarslan wichtig, das war auch ihren Kindern wichtig. Die Mutter habe sie im Sinne der Nächstenliebe erzogen, sagt Ismail Kizilarslan. Sie hat ihnen beigebracht, dass man manchmal sein Pausenbrot teilen muss, dass Nachbarschaftshilfe wichtig ist.

Azize Kizilarslan selbst hat es geschafft

Sie hat sie stark gemacht und ihnen beigebracht, an sich zu glauben. "Ich weiß nicht, ob ich ohne sie mein Studium durchgezogen hätte", sagt Ismail Kizilarslan. Besonders wichtig war es Azize Kizilarslan immer, Kinder und Frauen zu unterstützen. Weil sie selbst alleinerziehend war, weil sie mit ihren Kindern Zeiten durchlebt hat, die nicht einfach waren.

Kizilarslans Eltern stammen aus der Türkei, sie selbst ist hauptsächlich in Deutschland aufgewachsen. Ihre Kultur mache es Frauen nicht leicht, ihre Stärke zu entdecken, ihre Rechte, ihren eigenen Kopf. "Viele Frauen schaffen das hier nicht", sagt sie, "aber es ist machbar". Sei selbst hat es geschafft. Sie hat sich selbständig gemacht, führt als Unternehmerin eine Bäckerei. Ein bisschen kann sie nun indirekt helfen, kann Mut machen und andere Frauen stärken. Kann ihnen helfen, den Opferstatus zu überwinden. Einfach indem sie ihr Haus vermietet - an Frauen, die noch Unterstützung brauchen auf ihrem Weg.

"Herzlich willkommen" steht nun auf einem aufgeklebten Blatt Papier an jeder Zimmertür. Wenn Azize Kizilarslan und ihre Söhne durchs Haus gehen, hängt da noch viel mehr. Unsichtbar, in der Luft - in jedem Raum, in jeder Ecke eine Erinnerung. Sie freuen sich, dass das Haus künftig neue Erinnerungen sammeln kann.

Ihre Familienzusammenkünfte sind ihnen immer noch wichtig, mindestens einmal in der Woche versuchen sie sich zum Abendessen zu treffen. Nun eben in Azize Kizilarslans Wohnung, dort müssen sie ein bisschen enger zusammenrücken als früher. Bei der Wohnungssuche im vorigen Jahr war Kizilarslan plötzlich mit der Realität des Mietmarkts konfrontiert. 1200 Euro bezahlt sie nun, für 45 Quadratmeter.

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