Kultursommer in der Stadt:Was tun gegen das Eingesperrtsein

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Indierockglückseligkeitsmomente: "The Notwist" spielen im Olympiastadion groß auf der Gefühlsskala. (Foto: Catherina Hess)

Mit einem Konzert von "The Notwist" eröffnet die Sommerbühne im Münchner Olympiastadion. Disziplinierte Fans verfallen in größte Euphorie - ohne eine Coronaregel zu brechen.

Von Michael Zirnstein, München

Falls jemand daran zweifelt, dass es eine gute Idee ist, Rockfans in der Pandemie Konzerte besuchen zu lassen, er oder sie hätte bei The Notwist im Olympiastadion vorbeischauen müssen. Bei der achten Nummer, "One With The Freaks", haben sich 300 der 1200 versammelten Gäste von ihren Hartschalensitzen in der Südkurve erhoben. Sie hopsen und beckenkreisen faustreckend zu diesem Stück, das man nicht einfach einen Hit nennen sollte, sondern einen Klassiker, weil es wie wie einige weitere Stücke der Weilheimer Band in keiner Expertenliste der 100 wichtigsten Popsongs aus Deutschland aller Zeiten (inklusive der kommenden) fehlen darf. Aber die Leute umarmen sich nicht und küssen sich nicht, obwohl sich die meisten in diesem ersten Indiepopglückseligkeitsmoment nach einer halben Ewigkeit genau danach sehnen müssen. Sie tanzen, aber sie tanzen brav auf der Stelle, und alle, wirklich alle haben sich beim Erheben ordnungsgemäß ihre Masken aufgesetzt. Wie sinnlos das auch bei einem Abstands-Open-Air erscheinen mag. Viele der 15 000 Fußballfans bei der EM hinterließen bei weitem keinen so disziplinierten Eindruck.

Mit Anstand und Abstand verfolgten 1200 Fans die Eröffnungsshow des "Kultursommers in der Stadt". (Foto: Catherina Hess)

Viele Kulturschaffende sind nahezu infiziert vom Sicherheitsdenken, für sich und ihr Publikum. Und auch die Musiker von The Notwist sollen sich laut Ohrenzeugen nach diesem absolut unanstößigen Abend gefragt haben, ob es denn schon wieder richtig war, vor so vielen Menschen zu spielen. Sie sind eben Meister des Abwägens.

Aber wen hätte man sonst spielen lassen sollen zum Stapellauf des Flaggschiffs der " Kultursommer in der Stadt"-Flotte: auf der großen vom Verband der Münchner Kulturveranstalter schon im zweiten Jahr organisierten Sommerbühne im Olympiastadion, wo nun einen Monat lang vor bis zu 2000 Zuschauern (derzeit sind 1500 erlaubt) Populärmusik von Rock über Jazz und Hip-Hop bis Queer-Elektro und Sommer-Klassik erklingt. Altgediente Münchner Helden? Eine international erfolgreiche und renommierte Band? Ein sich bis Japan, Argentinien und Amerika vernetzendes Kollektiv der freien Szene? Am besten alles zusammen, also The Notwist, jene Weilheimer, denen München seinen Eintrag in den "Lonely Planet"-Reiseführer des Rock verdankt. So vertraut zu Hause in Bayern (auf das sie sich als komponierende Kosmopoliten so ungern festnageln lassen), und doch auch für die Hiesigen immer überraschend: So schlurfen die beiden scheuen und doch omnipräsenten Acher-Brüder Markus und Micha mit einer neuen Truppe auf die Bühne. Mit ihrem inzwischen bestens eingearbeiteten Elektro-Meister Cico Beck und dem Stamm-Live-Drummer Andi Haberl, sowie mit den Multiinstrumental-Akrobaten Max Punktezahl, Karl Ivar Refseth und Theresa Loibl. Wie würden sie live nahezu ungeprobt umsetzen, was in einem siebenjährigen Kreativprozess mit Gastmusikern aus aller Welt zum aktuellen Album-Monument "Vertigo Days" gemeißelt wurde?

Gut behütet: Anna McCarthy bringt mit ihrer Band "What Are People For", was "The Notwist" scheuen: Performance, Humor und queere Sexyness. (Foto: Catherina Hess)

Davor stellte sich noch die Frage nach einer würdigen Vorband. Die Veranstalter vom Club 2, Münchens Entwicklungshelfer in Sachen Indie-Musik, die noch die Hamburger-Schule-Stars Tocotronic auf die Sommerbühne bringen werden, entschieden sich für What Are People For? Die perfekte Ergänzung, denn das der Kunst- und Theater-Szene entsprungene Hippie-Disco-Quartett liefert, worum sich Notwist seit jeher nicht scheren: sauberes Englisch (antisteril: "Bring back the dirt"), Humor, durchsichtige Kostüme und überhaupt eine Lüsternheit mit wildem, freiem barfüßigem oder gestiefelten Negligé- oder Minirock-Tanz.

Markus Acher trippelt engschrittig, als verdrücke er sich den WC-Besuch. Aber seine fragile Stimme trägt weit, öffnet Herzen. In seiner 30-jährigen Vers-Sammlung singt er von erschütterter Liebe, die Himmel und Erde vertauscht, von Telefonen und anderer Kommunikationverwirrung. Es ist so persönlich, dass jeder etwas damit verbindet, aber auch prophetisch. Nicht nur in den von "schwindligen Tagen" im Lockdown geprägten Stücken auf "Vertigo Days" singt er vom Gefangensein, schon auf ihrem ersten Top-Ten-Album "Neon Golden" von 2002 heißt es: "No matter what we say / ... / We will never leave this room / What are we going to do about this?" Was tun gegen das Eingesperrtsein?

Befreiungsakt: Micha Acher, Markus Acher und Karl Ivar Refseth von "The Notwist" (von links) spielen sich in einen Rausch. (Foto: Catherina Hess)

Rausgehen und spielen. Das Konzert von The Notwist wird zum Befreiungsakt. Ein wohl ritualisierter Hexenzirkel aus instrumentalen Zauberelixieren, die die Stumpfheit mithilfe aller möglichen Gefühls-Booster knacken: Panzerbrecherhärte der Gitarren ("Strategy to myself"), kühle Weiten ("Into The Ice"), nie stumpfen Frohsinn, Rage oder streichelnden Trost wie im Gute-Nacht-Lied "The Night's To Dark", geschrieben für den Film "Das Verschwinden", bis sie die Wirklichkeit mit dem Klingklang vom "0-4" vom 1998er-Album "Shrink" so verzaubern, dass viele den hinterm Olympiaberg orange aufsteigenden Mond für einen Teil der Show halten. Solche dramaturgischen Bögen spannen die vier auch in jedem einzelnen Stück, mit im Studio tausendfach durchdiskutierten Sounds und Sequenzen, die sie unter der Plexiglasglocke der Südkurve einfach von der Leine lassen: Etwa "Into Another Tune", wo sie ihre Parts von den Afro-Drums über Saxofon-Brabbeln bis Vibrafon-Attacken über- und gegeneinander laufen lassen wie ein Meister-DJ sieben Platten gleichzeitig. Oder im guten, alten "Pilots", der dritten von fünf Zugaben, das zerlegen fünf von ihnen an ihren Elektro-Kisten, bis es blubbernd als Jazz- The Who-Techno-Rave explodiert.

Stadionluft schnuppern können einen Monat lang Besucher und Bands regensicher unter der Plexiglasglocke der Südkurve. (Foto: Catherina Hess)

Kollektives loslassen, alle stehen, jubeln, schreien, klatschen. Da denkt keiner mehr an seine Maske (die eh nur beim Tanzen geboten wäre). In diesem Moment will jeder nur mehr davon, will alles, will jeden Abend so etwas auf dieser Sommerbühne erleben. Der Auftritt von The Notwist war nicht nur richtig, er war lebenswichtig für die Popkultur.

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