München:Hineinhören in fremde Welten

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Beim Projekt "Barabern und Strawanzen" sind Sound-Spaziergänge durchs Schlachthofviertel oder das Kreativquartier entstanden. Sie beschäftigen sich mit Geschichte und Geschichten von Migranten in der Stadt

Von Jerzy Sobotta

Kopfhörer im Ohr, Smartphone in der Hand. Normalerweise steigert das nicht gerade die Kommunikation. Anders, wenn Donika Gawaz so durchs Münchner Westend läuft, gefolgt von einer Handvoll Menschen, alle ebenfalls mit Stöpseln im Ohr. Dann verwandelt sich die Schwanthalerstraße plötzlich in eine neue Welt: in das "vierte Jugoslawien" etwa, einen Vielvölkerstaat. "Viertes Jugoslawien?" flüstert eine Frauenstimme in der Aufnahme. Ein orthodoxer Chor stimmt ein Lied zur Messe an, Stimmen tuscheln auf Serbisch, Albanisch, Deutsch. "München, als funktionierender Vielvölkerstaat?", flüstert es weiter. Hier im Westend kamen auf kleinstem Raum all diejenigen zusammen, deren Land im Krieg zerfiel, erfährt der Zuhörer.

Das Gedankenbild ist Teil eines Sound-Spaziergangs über das migrantische München, bei dem Gawaz die Gruppe durch die Straßen führt. Es ist kein gewöhnlicher Stadtrundgang, kein Audioguide, der hier abgespielt wird. Sondern einer von mehreren Sound-Essays, in denen es mal sehr persönlich, mal literarisch oder historisch wird. Einige Beiträge werfen philosophische Fragen über Zugehörigkeit auf, andere entführen die Zuhörer in die Familiengeschichte: Gawaz' Eltern sind in den Neunzigerjahren aus Pristina im Kosovo nach Deutschland geflohen.

Die Audiobeiträge sind im Projekt "Barabern und Strawanzen" entstanden, das die Lokalgeschichte der Migration in München erforscht. "Es ist eine künstlerisch-wissenschaftliche Intervention", erklärt die Initiatorin Brigita Malenica. Das Projekt soll ein alternatives Stadtgefühl vermitteln und in einem gemeinsamen Arbeitsprozess der Teilnehmer das Bewusstsein für Migration und ihre Flüchtigkeit schärfen. Denn nur all zu oft verschwinde die Geschichte derer, die aus der Ferne kommen, wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung. In den Sound-Essays werden einige dieser Geschichten zurückgeholt.

Donika Gawaz (im grünen Pullover) erzählt in ihrem Sound-Essay von ihrer Familiengeschichte. Ihre Eltern kamen in den Neunzigerjahren aus dem Kosovo nach Deutschland. (Foto: Sebastian Gabriel)

Für den Namen hat die Initiatorin Malenica tief im Unbewussten der Stadt gegraben. "Barabern ist ein in Vergessenheit geratenes Wort, das im bairischen Dialekt für das schwere Arbeiten steht", erläutert sie. Ursprünglich komme es vom oberitalienischen "barabba", dem Landstreicher. Ende des 19. Jahrhunderts hätten italienische und slawische Eisenbahnarbeiter das Wort nach Bayern und Österreich gebracht, wo es für einfache Hilfsarbeiter stand. Auch das "Strawanzen", das nichtsnutzige Herumstreunen, kam aus dem Italienischen ins Bairische. In dem Projekt geht es also um Heimat, um Fremde und um schwere Arbeit, die das Los der meisten Ausländer in Deutschland ist.

Einer der Sound-Essays führt zum Münchner Hauptbahnhof: Der war seit den Sechzigerjahren der erste Ankunftsort für Italiener, Griechen oder Türken. Viele blieben hier, noch mehr fuhren weiter in andere Städte der Bundesrepublik. Man lernt die 19-Jährige Vera Rimski kennen, die im März 1972 mit einem Zug aus Belgrad kommt und als zweimillionste Gastarbeiterin registriert wird. Oder ihre Namensvetterin Vera Kamenko, ebenfalls aus Jugoslawien, die vor ihrem gewalttätigen Mann aus Berlin nach München flieht. In den Achtzigern wird sie einen Roman über ihre Geschichte schreiben.

Malenica brachte die Idee für die Sound-Spaziergänge aus Wien mit, wo ein Autorenkollektiv ähnliche Essays schon seit zehn Jahren aufnimmt. Doch anders als in Wien war München weder die Hauptstadt eines Vielvölkerreiches noch eine Kapitale der Weltliteratur. Auch für migrantische Literatur aus München heißt das: "Es gibt so gut wie nichts. Die Texte müssen wir selber schreiben", sagt Malenica.

Genau das hat die Gruppe, die Gawaz durch die Straßen folgt, den ganzen Sommer lang getan. In Workshops haben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kennengelernt, auf Stadtplänen für Touristen ihre ganz persönlichen Migrationsgeschichten in München eingezeichnet, viel diskutiert, bei Schreibworkshops Ideen entwickelt. Anders, als zu Beginn des Projekts vor drei Jahren, steht nicht mehr der Balkan im Mittelpunkt.

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(Foto: Sebastian Gabriel)

Wer mitgeht, stößt auf Communities, die meist unsichtbar bleiben.

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(Foto: Sebastian Gabriel)

Mit Knopf im oder Kopfhörer auf dem Ohr läuft man durchs Westend, ein altes Arbeiterviertel.

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(Foto: Sebastian Gabriel)

Es geht um Heimat und schwere Arbeit, die das Los der meisten Ausländer in Deutschland ist.

"Wir haben das Thema ausgeweitet", sagt Charlotte Coosemans, die damals mitgelaufen ist und inzwischen zu den Mitorganisatorinnen des Projekts gehört. Das Thema sei Distanz, es passe zu Migration, zur Ausgrenzung und eben auch zu Corona. "Migration hat viele Ebenen", sagt die 31-Jährige. Sie selbst ist in der Schweiz aufgewachsen - man muss etwas bohren, um das herauszubekommen. Aber auch das ist eine Migrationsgeschichte. Längst sind es nicht mehr nur Gastarbeiter oder "barabba", die von Migration zu berichten haben. Längst gibt es auch die zweite, die dritte Generation. "Unser Interesse ist die post-migrantische Gesellschaft: Wie wir miteinander leben wollen", sagt Coosemans.

Neun Menschen sind in diesem Jahr an dem Projekt beteiligt. Die neuen Sound-Spaziergänge führen durchs Schlachthofviertel, die Innenstadt oder das Kreativquartier und zeigen allen, die mitlaufen, die Welt von Communities, die meist unsichtbar bleiben: Es wird um die Romantisierung und Kriminalisierung von Sinti und Roma in München gehen, um den Weg eines afghanischen Künstlers in die westliche Kultur, um Flucht und die Effekte der Pandemie auf sexuelle Minderheiten.

Die Premiere beginnt am Samstag, 16. Oktober, um 15 Uhr. Anmeldung für die Teilnahme unter www.barabern.de. Der Treffpunkt wird per Mail bekanntgegeben. Folgetermine sind die Sonntage, 17., 24. und 31. Oktober, ebenfalls um 15 Uhr.

© SZ vom 12.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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