Sprache ist auch immer ein Stück Heimat. Was gäbe es also Besseres, um in der Fremde heimisch zu werden, als die dortige Sprache zu lernen? Der in München lebende japanische Künstler Hayato Mizutani widmet sich dieser Aufgabe mit besonderer Sorgfalt. Seit gut zwei Jahren erkundet er die deutsche Sprache durch Einträge in sein persönliches Wörtertagebuch. Nun hat er die Notizbücher, jeweils ein Buch pro Jahr, veröffentlicht - einmal als gebundenes Kunstobjekt sowie gleichzeitig als digitale Version auf seiner Homepage. Dabei ist jeder Vermerk von einer bestimmten Vokabel initiiert. Zuerst steht das einzelne Wort, darunter finden sich dann ein oder mehrere Sätze, in die es eingebettet ist. "Wenn ich neue Wörter lerne, stoße ich an die Grenzen in meinem Kopf. Dadurch kann ich die Welt besser verstehen. So denke ich." Dies ist der erste Eintrag zum Verb stoßen am 12. November 2018 und der Beginn eines Rituals, das der 35-Jährige bis heute beibehalten hat. Das Anfangsdatum ist nicht zufällig gewählt, denn am 12. November 2014 kam Mizutani nach Deutschland. Insofern dokumentieren die beiden mit "Das fünfte Jahr" und "Das sechste Jahr" betitelten Bücher, das jeweilige Jahr, das er hier verbracht hat.
"Bevor ich nach Deutschland umgezogen bin, habe ich in der Schweiz gewohnt", erzählt Mizutani. Dort hat er angefangen, Deutsch zu lernen in Kursen und im Selbststudium, was wegen des Schweizerdeutschen eine ungeheure Herausforderung war. Dann ging der ausgebildete Architekt nach Hamburg, wo er Kunst studierte. " Erwerbstätigkeit gestattet steht auf meinem Aufenthaltstitel", lautet der Eintrag vom 29. November 2018. Erwerbstätigkeit - was für ein schwieriges Wort. Im Januar 2019 zieht Mizutani nach München, um Teilzeit in einem Architekturbüro zu arbeiten. So hat er genug Zeit für seine Kunst: Objekte, Installationen, Fotografie. Es ist einmal mehr eine neue Welt, die sich in dieser Stadt für ihn auftut. "Ich sehe immer das Wort Bräu in München. Was ist das?" So schreibt er. Oder ein andermal einfach nur "Servus!" oder "Schau ma mal!".
Hayato Mizutani geht es in seinen Worttagebüchern nicht nur ums Deutschlernen.
Seine Einträge sind auch ein Werkzeug, sich selbst und die Welt zu verstehen ...
... und Klarheit zu gewinnen über die Erscheinungen der Wirklichkeit - ...
... eine Klarheit, die sich auch in der nüchternen Ästhetik seiner Kunst widerspiegelt.
Es scheint, als wolle sich Hayato Mizutani mit seinem Wörtertagebuch die fremde Sprache erschließen, um irgendwann einig zu werden mit diesen fremden Lauten, Klangmustern und Bedeutungen. Als wolle er die Stadt, die Menschen und das ganze Land verstehen. Und obwohl er sich nicht nur mit dem Gefühl, sondern auch mit dem deutschen Wort Heimweh auseinander gesetzt hat, gilt für ihn: "Die Neugier überwiegt meine Sorgen." Und sie wird belohnt. "An der Isar haben wir Leuchtkäfer gesehen. Ich wusste nicht, dass es Leuchtkäfer in Deutschland gibt. Sie sind in meinem Kopf stark mit Japan verbunden."
Obwohl Hayato Mizutani sich selbst nicht als politischen Menschen bezeichnet, beschränken sich die Einträge nicht nur auf persönliche Erlebnisse, Beobachtungen und Emotionen. Auch Nachrichten zum Weltgeschehen werden in seinen Büchern in kurzen Sätzen umschrieben. Es geht um Klima, Migration, um Trump, den Brexit, um Pressefreiheit und immer wieder auch um die deutsche Geschichte. "Ich will verstehen, was passiert", sagt er. Wie zufällig kreuzen sich in Mizutanis Aufzeichnungen Persönliches und Politisches. Der Eintrag vom 12. Dezember 2018 etwa ist komplett der Menschenrechtskonvention der UNO gewidmet. Und dann ist da natürlich dieses maßgeblich von Covid 19 geprägte Jahr 2020. Anstecken ist das Wort der Stunde. "Viele Leute in China stecken sich mit dem Coronavirus an." So lautet der Eintrag vom 29. Januar 2020. Einen Monat später heißt es dann schon: "Schutzengel gesucht." Und Anfang Oktober: "Ich sage mir selbst ab und zu tapfer, tapfer, tapfer. Es ist wie ein Zauber." Dass sich dieser Zauber endgültig entfaltet, darauf wartet Hayato Mizutani immer noch. Einige seiner geplanten Ausstellungen wurden abgesagt, andere verschoben. Was ihn besonders getroffen hat, ist die zunehmende Isolation. Den direkten Kontakt zu den Menschen vermisse er schon sehr, sagt er.
Was aber hat den Künstler bewogen, seine Worttagebücher, die optisch wie eine Sammlung von Lexikoneinträgen gestaltet sind, öffentlich zu machen? Er selbst fühle sich von Kunstwerken inspiriert, die persönlich und gleichzeitig universell sind und damit neue Perspektiven eröffnen. "Obwohl ich diese Tagebücher nur angefangen habe, um mein Deutsch zu verbessern, dachte ich, dass die Texte vielleicht diese Qualitäten haben."
Worte, Bedeutungen, Assoziationen - die Essenz eines Gedankens, eines Tages, eines Monats und ganzer Jahre bündeln sich in Mizutanis Aufzeichnungen. Ein Kosmos tut sich auf, in dem alles seine spezifische Berechtigung hat, von der kleinsten Alltäglichkeit bis zur größten Weisheit. "Der Drucker funktioniert einwandfrei." Aber: "Muss man immer sofort behaupten, wie man denkt? Man kann auch länger überlegen, denke ich." Es ist oft nicht leicht in der Fremde, obwohl Mizutani München sehr mag und auch einige gute Freunde gefunden hat. "Das spielt eine große Rolle", sagt er. Denn der Austausch mit den Menschen, die Fähigkeit, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, schafft ein Gefühl der Vertrautheit. Vertrautheit - auch so ein Wort, dass Hayato Mizutani schon erkundet hat. "Manchmal genieße ich es aber auch, fremd zu sein", gesteht er. "Das ist ein Stück Freiheit."
"Das fünfte Jahr" und "Das sechste Jahr" zu lesen unter https://kurzelinks.de/ra3c und https://kurzelinks.de/puxs