München:Die unsichtbare Grenze

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Völkerverständigung privat: Als Danuta und Werner Meier sich in den 80er Jahren kennenlernten, trennte der Eiserne Vorhang Europa noch in zwei Welten. (Foto: Catherina Hess)

Seit 45 Jahren will die Deutsch-Polnische Gesellschaft München die Menschen der beiden Nachbarländer über die Kultur einander näherbringen. Danuta und Werner Meier, die Vorsitzenden, arbeiten mit Elan gegen ein Desinteresse an

Von Jerzy Sobotta

Ein Dokument liegt auf dem Tisch. Werner Meier beugt sich darüber und fährt mit dem Finger über die Lettern. "Protokoll der Gründungsversammlung der Deutsch-Polnischen Gesellschaft München e.V." steht in Schreibmaschinenschrift auf der Seite. Darunter die Jahreszahl 1974 und ein Stempel des Amtsgerichts. Es ist das Gründungsdokument, mit dem der Verein ins Leben gerufen worden ist, um "das Verbindende zwischen den beiden Völkern" herauszustellen. Eine Gesellschaft, die durch Diskussionen, Kunst und Film den Münchnern das östliche Nachbarland näher bringen sollte.

Bis heute existiert der Verein, 45 Jahre, die Ende März groß gefeiert wurden. Seit zehn Jahren führt ihn Werner Meier, seit fünf Jahren gemeinsam mit seiner Frau Danuta. Seit der Gründung hat sich fast alles verändert: Europa, die Weltlage, die politischen Trennlinien. Der Verein aber ist sich treu geblieben: Nach wie vor finden Vorträge statt von Schriftstellern, Historikern, Kunsthistorikern und Slawisten. Polnische Filme werden gezeigt, polnische Jazzmusiker und Pianisten treten auf.

Der 77-Jährige holt ein zweites Schriftstück hervor, auf dem ebenfalls in Schreibmaschine und mit dem gleichen Stempel versehen, eine Liste von Namen zu erkennen ist. Es sind die Gründer der Gesellschaft: ein Theologe, ein Minister, einige Wissenschaftler und Redakteure aus München. Unter den Namen ist auch Immanuel Birnbaum, damals stellvertretender Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung. Zwischen den beiden Weltkriegen war Birnbaum Korrespondent in Warschau gewesen, bis die Nazis 1939 über das Land herfielen. Er floh, hielt aber Kontakt zu deutschen und polnischen Widerstandskreisen und wurde schließlich in Schweden selbst interniert. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren leitete er das Ressort Außenpolitik der SZ und gilt als einer der Vordenker der "Neuen Ostpolitik" von Willy Brandt. In deren Zuge hatten sich in der ganzen Bundesrepublik deutsch-polnische Gesellschaften gegründet, die über die Kultur eine Verbindung zu ihren östlichen Nachbarn knüpfen wollten. Über 50 Ortsgruppen gibt es bis heute, die in einem gemeinsamen Dachverband organisiert sind.

Bei der Gründung der Münchner Gesellschaft war das Ehepaar Meier noch nicht dabei. Die beiden kannten sich damals nicht einmal. Danuta Meier hieß noch Budna und war mit Mitte Zwanzig Deutschlehrerin in der Provinzstadt Sandomierz in Südostpolen. Glühend interessiert an dem Land, dessen Sprache sie unterrichtete, knüpfte sie erste Kontakte, erst in die DDR und dann nach Westdeutschland. "Reisen war damals ein riesen bürokratischer Aufwand", erinnert sich die heute 71-Jährige. "Es gab Schlangen, in denen musste man für einen Reisepass mehrere Tage lang anstehen." Ein deutsches Visum gab es nur in Warschau. Trotzdem fuhr sie jedes Jahr nach Westdeutschland. Auf einer dieser Reisen lernte sie 1985 auch Werner Meier kennen, einen Mathematiker, den Mittelosteuropa schon seit der Schulzeit faszinierte. Er zeigte ihr München und machte ihr nach einer Woche einen Heiratsantrag. "Mein erstes polnisches Dorffest war meine eigene Hochzeit", schmunzelt Meier. Er war der einzige Deutsche auf dem Fest.

So haben sich zwei gefunden, die es immer auf die jeweils andere Seite gezogen hatte. In einer Zeit, als eine Grenze durch ganz Europa verlief, Flugreisen ein Vermögen kosteten und die Briefe des jungen Paars vom Geheimdienst kontrolliert wurden. Danuta Meier hatte sich Anfang der Achtzigerjahre bei der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung Solidarność engagiert und war allein schon wegen der vielen Reisen in den Westen verdächtig. Auch einer Verhaftung während des Kriegszustands ist sie nur knapp entgangen. Als der marode Staatssozialismus in Polen schließlich zusammenbrach, war sie bereits in München, bei ihrem Ehemann.

Heute kommt man über die Grenze, ohne einen einzigen Ausweis zu zeigen. Brücken müsse man aber trotzdem noch bauen, sagt Danuta Meier. "Bis heute wissen die meisten Menschen in Deutschland rein gar nichts über Polen." Waren die beiden Länder damals durch Mauern und Stacheldraht voneinander getrennt, so ist es heute eine unsichtbare Grenze: das Desinteresse. Trotz Europäischer Union, trotz Schengen und trotz der Tatsache, dass Polen die zweitgrößte Zuwanderergruppe in Deutschland sind. "Deswegen haben sich die Ziele unserer Arbeit nach wie vor nicht verändert", sagt Werner Meier.

Die Veranstaltungen des Münchner Vereins sind dennoch gut besucht. Die beiden haben ein Gespür für die unterschiedlichen Vorlieben des Publikums: Mal geht es geselliger, mal intellektueller, mal artistischer zu. Und seit die Nationalkonservativen in Warschau regieren, ist die Politik wieder wichtiger geworden. "Die gesellschaftliche Spaltung in Polen bemerkt man auch in München", sagt Werner Meier. Der Kontakt zu den konservativeren Polen sei schwierig geworden. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen die polnische Botschaft großzügig vom Verein organisierte Studienreisen für Deutsche nach Polen unterstützte. Nun setzt das Außenministerium verstärkt auf die kulturelle Eigenständigkeit und den Katholizismus der Auslandspolen. "Aber wir sind kein Polonia-Verein", betonen die beiden. Sie wollen den Münchnern das Nachbarland näher bringen, auch kritisch.

Den Vorsitz der Gesellschaft gibt das Ehepaar dieses Jahr ab. Das Alter macht ihnen langsam zu schaffen, und auch das Publikum soll sich verjüngen. Zwar hat Meier den Verein schon früh ins Internet geholt und ist auch in sozialen Netzwerken sehr aktiv, aber den Generationswechsel sollen zwei jüngere Frauen herbeiführen: die Kunsthistorikerinnen Anna Goebel und Regina Wenninger.

© SZ vom 15.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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