München:Der Kunst-Lenker

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Eine Broschüre im Hosentaschenformat lotst Spaziergänger zu oft übersehenen Werken im Stadtbild von Pasing und Obermenzing. Mit etwas Glück trifft man sogar einen Maler bei der Arbeit

Von Jutta Czeguhn

Sie fliegen in strenger Formation. Ein stilles, edles Geschwader, anfangs noch so dicht nebeneinander, dass sich ihre spitzen, stilisierten Flügel, ihre Köpfe, die Schwanzfedern zu berühren scheinen. Doch je höher sie steigen, desto lichter wird der Vogelschwarm. Man muss sich die Zeit nehmen, um dieser besonderen Dramaturgie an der Fassade des Hauses für Kinder an der Frauendorferstraße 32 die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdient. "Der Flug", so nennt die in Berlin lebende japanische Künstlerin Motoko Dobashi ihre Arbeit, mit der sie Origami-Techniken ebenso zitiert wie den traditionellen Farb-Holzschnitt oder die Manga-Kultur ihrer Heimat. Seit 2013 kann man Dobashis Kunst am Bau, die im aufwendigen Siebdruckverfahren auf Zementfaserplatten angebracht ist, an der Frauendorferstraße bewundern. Doch dürfte sie nur wenigen gegenwärtig sein. Ein kleines Heft, das problemlos in der Hosentasche Platz hat, führt nun zu vielen bekannten und bislang eher übersehenen, öffentlich zugänglichen Kunstwerken in Pasing und Obermenzing. In Zeiten des wiederentdecken Flanierens der perfekte Begleiter.

"Man sieht nur, was man weiß", sind Klaus Herber und Angela Scheibe-Jaeger überzeugt. Der Vorsitzende des Kulturforums München-West und seine Stellvertreterin sind die Motoren dieses Projekts. 2015 hatten sie die erste Broschüre "Kunstwerke der letzten 100 Jahre in Pasing und Obermenzing" aufgelegt, nun ist die aktualisierte Ausgabe erschienen, mit der sie einmal mehr keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Denn die Zahl der Kunstwerke im öffentlichen Raum, sie wächst auch im Stadtbezirk Jahr um Jahr. Ganz so, als setze sich eine Tradition ungebrochen fort. Denn Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Bau der Villenkolonien begann der Münchner Westen eine enorme Anziehungskraft auf Kunstschaffende auszuüben. Hier konnten sie sich in den repräsentativen Häusern ihre Ateliers einrichten beziehungsweise großzügige Mäzene finden. Über die Maler und Bildhauer dieser "Pasinger Schule" und den Spuren, die sie im öffentlichen Raum hinterlassen haben, ist in diesem kompakten Kunstführer ebenso zu erfahren wie über die Arbeiten von Gegenwartskünstlern, unter ihnen sogar ein Star des internationalen Kunstmarktes.

Tradition und Moderne in Wolfgang Hallers Gestaltung eines Trafohäusls. (Foto: Privat)

Wie nun aber soll man sich auf den Kunstpfad begeben? Systematisch auf eine Art Sektoren-Expedition, wie sie die Autoren anregen, durch Pasing-Mitte mit seiner großen Dichte an Kunst im öffentlichen Raum? Oder durch Pasing-West, Pasing-Ost schlendern, durch die Villenkolonien oder durch Obermenzing? Auch nach Epochen könnte man sich den Werken nähern, oder sich auf Skulpturen konzentrieren, auf Fassaden-, Glas- oder aber Erinnerungskunst. Womöglich aber läuft man einfach mal los in Pasing oder Obermenzing und schlägt die Broschüre auf. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eines der über 40 Kunstwerke, die darin mit kurzen Begleittexten und Illustrationen beschrieben werden, sich gleich in der Nähe befindet und andere nicht weit sind. Nummern in Klammern verweisen praktischerweise auf ihre Lage in einem Übersichtsplan.

So ein Ausgangspunkt könnte beispielsweise "Spaces Between Trees and People" sein, ein - möchte man wetten - dem Namen nach völlig unbekanntes Werk, das aber wahrscheinlich jedem Pasinger schon einmal ein Lächeln abgerungen hat. Denn der Brunnen auf dem Platz zwischen den beiden Gebäudeteilen der Pasing Arcaden ist der unangefochtene Sommer-Lieblingsplatz der Kinder im Viertel. Und fordert Kunstpuristen nonchalant zum Naserümpfen heraus. Als der Schöpfer dieser heiteren Wasserarbeit, der Däne Jeppe Hein, im Dezember 2011 unfallbedingt auf Krücken in den Pasinger Rathaussaal humpelte, um den Mitgliedern des Bezirksausschuss in charmantem Dänen-Deutsch seinen Wettbewerbsbeitrag für das Kunst-am-Bau-Projekt vorzustellen, dürften wohl nicht alle geahnt haben, dass es sich bei diesem jungen Typen um einen international hoch gefragten Installationskünstler handelt. Einen, dessen neon-rote Stadtmöbel heute im Brooklyn Bridge Park von New York ebenso zu finden sind wie auf der Themse-Esplanade in London. Spiel, Poesie und Kommunikation, darum geht es für Jeppe Hein in der Kunst. Sein Pasinger Wasserpavillon vereint all das. Noch liegt er trocken, ob seine Fontänen bald wieder aufsteigen werden, ist offen.

Motoko Dobashis Fassadenkunst. (Foto: Privat)

Wenige hundert Meter weiter auf dem Pasinger Viktualienmarkt sprudelt das Wasser, und das Brunnen-Buberl, auch Fischbub genannt, blickt zufrieden ins gefüllte Stein-Bassin zu seinen Füßen. Der Bildhauer Hans Osel (1907-1996) hat die Bronze-Skulptur 1938 geschaffen. Wer noch mehr von diesem Künstler sehen möchte, der in seinem Leben auch Vorsitzender des Deutschen Skilehrerverbandes war, kann um die Ecke am Rathausplatz an der Landsberger Straße vorbei schauen, dort steht sein Hochzeitsbrunnen "Die Gratulanten".

Am Rathaus bieten sich für den Flaneur noch weitere Entdeckungen. Auf der Gebäudeseite zur Rathausgasse hin steht seit 2015 die Installation "gebeugter leerer Stuhl" der Künstlerinnen Blanca Wilchford und Marlies Poss. Sie erinnert an die vertriebenen, deportierten und ermordeten Pasinger Juden. Auch im Werk "Die Tannhoferbin" von Andy Hope ist die Vergangenheit präsent, auch wenn sich dies dem Betrachter ohne Vorwissen erst mal nicht erschließt. Die Bildwand hängt nur ein paar Schritte weiter vom Mahnmal an der Fassade des Durchgangs zwischen dem 1938 im "Heimatstil" erbauten Rathaus und dem modernen Erweiterungsbau, als Scharnier, das die NS-Vergangenheit des Altbaus thematisiert, wenn auch subtil. Hope hat aus Computerprints, Zeitungs- und Buchseiten geometrische Formen ausgeschnitten und in dünnes Aluminiumblech übersetzt. Zentrales Motiv des Billboards ist ein Ziegenbock, ein Ausschnitt aus einem Gemälde von Julius Paul Junghanns. Der Tier- und Freilichtmaler war in der NS-Zeit sehr gefragt und soll daran beteiligt gewesen sein, den Juden Paul Klee 1933 von der Kunstakademie Düsseldorf zu entfernen. Hope verbaut diesen miefigen Traditionalismus in eine freche, dadaistische Collage.

Beliebt: Jeppe Heins Brunnen. (Foto: Catherina Hess)

"Oportet ut scandala eviant" - über diesen Schriftzug in Stahllettern an der Westfassade des Rathauses darf der Kunstwandler rätseln (ein Tipp: Matthäus-Evangelium) und sich dann auf den Weg machen zum historischen Trafo-Häuschen an der Gabelung zwischen Lortzing-/Pippinger Straße und Alter Allee. Dort heißt es, wenn man Glück hat, "the artist is present". In seiner kleinen Schutzhütte, die er mittlerweile "Corona-Hütte" nennt, hat der Künstler Wolfgang Haller den Originalbau aus den Anfängen der August-Exter-Kolonie mit Motiven von damals und heute gestaltet. Gewiss wird dieses Werk dann in der nächsten Auflage des kleinen Kunstführers zu finden sein.

Unter dem Motto "Doppelpack - paarweise Spurensuche" bietet Angela Scheibe-Jaeger einstündige Kunst-Spaziergänge zu zweit durch die Pasinger Villenkolonien. Mit Mundschutz und gehörigem Abstand. Treffpunkt und Termin kann man individuell mit ihr vereinbaren. Das Kulturforum München-West, bei dem man auch die Broschüre erhält, bittet pro Führung um eine Spende, die der Verein an Künstler weitergibt. Anfragen unter angelascheibe-jaeger@t-online.de.

© SZ vom 16.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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