München:Der Geist von Gezi

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Die Künstler-Initiative "Westendwork" sieht derzeit bedenkliche Entwicklungen (v. li.): Andrej Bagoutdinov, Cem Czerwionke, Sebahat Ünal, Tuncay Acar. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Mit ihrem Performance-Projekt "Alles bestens in der Türkei" sieht sich die Künstlergruppe "Westendwork" in der Tradition des kreativen Widerstands der Istanbuler Proteste von 2013

Von Stefanie Schwetz

Zuerst gibt es einen türkischen Mokka, schwarz, heiß, süß. Und schon ist man mittendrin in einer Diskussion über das aktuelle Weltgeschehen, am Küchentisch in einer Erdgeschosswohnung im Münchner Westend. Es geht um Texte, Bilder, politische Anliegen und darum, wie man mit künstlerischen Mitteln Kommunikationsprozesse anstoßen kann. "Westendwork" heißt die Künstler-Initiative, die hier nach kreativen Antworten auf drängende Fragen sucht. Als Einzelpersonen möchten die fünf Mitglieder, die in verschiedenen Konstellationen projektbezogen zusammenarbeiten, nicht groß in Erscheinung treten. Ihnen geht es darum, gemeinsam für eine Sache einzutreten. Dafür tauschen sie ihre Arbeiten oft ein paar Mal untereinander aus, diskutieren darüber und feilen daran. Sie sind Künstler, ohne sich nur auf Kunst zu beschränken. Sie sind politisch, ohne einer politischen Interessengruppe anzugehören. Sie sind türkisch, deutsch, international und bezeichnen sich selbst als Kosmopoliten.

Im Mittelpunkt der aktuellen Zusammenarbeit von Westendwork steht die innenpolitische Lage in der Türkei. "Alles bestens in der Türkei", so der provokante Titel der Performance von Cem Czerwionke, Tuncay Acar und Andrej Bagoutdinov. Sie soll der Auftakt sein zu einer Reihe, mit der Westendwork auf die "Gutgläubigkeit und Ignoranz der westlichen Welt" gegenüber den Verhältnissen in der Türkei reagieren will. Im Gespräch klagen die jungen Männer darüber, welch tief greifende Folgen die gegenwärtige Situation für den kulturellen Reichtum im Land ihrer Vorfahren hat und welche Verluste damit einhergehen. Sie berichten von der Gleichschaltung der Medien, der Einschränkung der Meinungsfreiheit und von einer Politik, die bewusst die Polarisierung der türkischen Gesellschaft vorantreibe. All das, so Cem Czerwionke, schlage sich als Selbstzensur auch bei den Türken in Deutschland nieder. "Früher konnte man in den türkischen Läden rund um den Münchner Hauptbahnhof noch Alkohol kaufen", sagt er, "jetzt wird das immer weniger."

"Alles bestens in der Türkei" also - das klingt absurd angesichts der gesellschaftspolitischen Realität in dem Land. Und genau das ist die Strategie, die Westendwork verfolgt. Indem die drei Künstler die Wirklichkeit in ein ästhetisches Werk kleiden und in einer Situation, die weit davon entfernt ist gut zu sein, behaupten, alles sei zum Besten, gerät ihre Arbeit zum oppositionellen Akt, zu einer Möglichkeit relativ risikolos Kritik zu üben.

"Wangen etwa wurden gemacht, dass man Bärte darauf wachsen lasse. Und - wir tragen Bärte." So heißt es frei nach Voltaire in einem von Andrej Bagoutdinovs Texten. "Haare wurden, wie schon der Augenschein zeigt, gemacht, dass man sie bedecke, also tragen wir Kopftücher. Steine wiederum gibt es, dass man sie behaue und Schlösser aus ihnen errichte - ergo hat der Herr Präsident ein prächtiges Schloss. Wer folglich behauptet: Alles ist gut, redet dummes Zeug; es muss heißen: Alles ist zum Besten."

Mit ihrer künstlerischen Arbeit will Westendwork aber auch eine Brücke bauen zwischen Deutschland und der Türkei, zwischen westlich und osmanisch geprägter Kulturen. Dabei sehen die Künstler durchaus Parallelen zwischen Istanbul und München: In der Art, wie hier städtischer Raum kommerzialisiert wird, und die Gentrifizierung voranschreitet. Das war im Jahr 2013 auch der Grund für die Demonstrationen rund um den Istanbuler Gezi-Park und den benachbarten Taksim-Platz. Ein massiver Widerstand gegen die Modernisierungspläne der Regierung hatte sich damals formiert, dem die Polizei gewaltsam entgegentrat.

"Dieser Protest ging quer durch die türkische Gesellschaft", erzählt Cem Czerwionke, "allerdings, ohne dass er sich parteipolitisch umwandeln ließ". Er erinnert sich noch gut an die Trommelkonzerte, an die mit Gasmasken tanzenden Derwische und an die Oma mit ihrem Picknick-Korb, die den Demonstranten Essen brachte. "Der Geist von Gezi soll sich auch in unserer Arbeit wiederfinden", erklärt Andrej Bagoutdinov, "diese kreative Art des Widerstands".

Neben den Texten finden sich in der Gemeinschaftsarbeit von Westendwork Bilder und Filme. Gesichtslose, hölzerne Gliederpuppen mit der Anmut von Primaballerinen tauchen hier auf. Bewegungen aus dem klassisch-westlichen Tanzrepertoire, angereichert mit türkischer Dichtung, osmanischen Klängen und dem grellen Licht einer Glühbirne. Und da sind noch die Fesseln und Widerstände, die den Tanz der Puppen zunehmend einschränken. Diese Worte und Bilder eignen sich nicht zur politischen Propaganda. Es geht um Dinge von allgemeiner Gültigkeit: die Kunst, die Freiheit, die Menschenwürde.

Das Subversive im Absurden, das Politische in der Kunst - das ist es, was "Alles bestens in der Türkei" zu einem Gegenentwurf zu den immer gleichen Erklärungsmustern des Politikbetriebs macht. "Die Welt ist zu klein geworden, als dass uns die Situation jenseits der deutschen oder europäischen Grenzen nichts angeht", erklärt Cem Czerwionke stellvertretend für die Gruppe. Mit dieser Botschaft soll "Alles bestens in der Türkei" nach seiner einmaligen kostenlosen Aufführung in München für jeden im Netz zugänglich sein

" Alles bestens in der Türkei" wird ausschließlich am Samstag, 14. Mai, von 20.30 Uhr an im Schwabinger Rationaltheater, Hesseloherstraße 18, gezeigt. Die Texte werden gelesen von Sebahat Ünal. Der Eintritt ist frei.

© SZ vom 07.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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