München:Beste Zutaten

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Mit "Bayerisch Baklava" präsentiert Viktor Schenkels Theater Grenzenlos eine wunderbare Dorfposse mit Witz und Tiefgang: Geflüchtete bringen ins hinterwäldlerische Vorderwiesengrund nicht nur goldene Brezen, sondern auch viel Menschlichkeit

Von Nicole Graner

Zum Glück gibt es diesen Koffer. Achmadi hält ihn ganz fest. So als ob er das letzte Attribut aus seiner Heimat um keinen Preis hergeben wolle. Als ob er ihm Halt geben könnte, für das, was kommt. Achmadi steht für alle Geflüchteten, die plötzlich in einem anderen Land gestrandet sind, alles zurücklassen mussten. Die Familie, Freunde, ihr Leben. Die einen Koffer Vergangenheit mit sich tragen - als Erinnerung. Und er landet mit anderen Heimatlosen im Nirgendwo. In einem bayerischen Dorf. Nennen wir es Vorderwiesengrund.

Achmadi ist nicht Achmadi. Sondern Hakim Rezai aus Afghanistan. 2015 kommt er nach München. Ohne Familie. Mit vielen andern Jugendlichen lebt er in Freimann in einer Unterkunft. Dann taucht dort Schauspieler und Regisseur Viktor Schenkel auf und fragt die jungen Menschen, ob sie Theater spielen wollen. "Theater? Was soll das sein, haben wir uns gefragt", erzählt der 21-Jährige. Und er lacht still in sich hinein. Der Moment, an dem ein unbekannter Deutscher mit Händen und Füßen von Bühne und Stücken "spricht", scheint ihm plötzlich wieder sehr präsent zu sein. Doch Hakim geht hin zum ersten Treffen. Unsicher, ohne Sprachkenntnisse. Nur mit einer großen Portion Mut. Wenn man so will, mit seinem ganz eigenen Koffer.

"Du hast doch alles. Ein Zuhause, eine Mutter und die Bäckerei. Was hast du verloren?", fragt Achmadi die Bäckersfrau. (Foto: Yaroslav Kryuchka/oh)

Jetzt spielt er Theater beim "Theater Grenzenlos", steht zum sechsten Mal schon auf der Bühne. Und Viktor Schenkel ist kein Unbekannter mehr, sondern ein Freund. Über das Theater lernt er seine jetzige Frau kennen, ist seit elf Monaten Papa. Er spricht gut deutsch und hat einen Job. Hakim ist, so scheint es, angekommen. Auf der Bühne, auf der er sich nie hätte vorstellen können, einmal zu stehen. Und im Leben. Er hat seine Mutter wiedergesehen. Seinen Bruder. Das Theaterspielen bedeutet ihm "echt viel", sagt Hakim. Es habe ihm Kraft gegeben. Das sieht Hani Ameen-Samoo aus Irak genauso. Er teilt sich die Hauptrolle im neuen Stück "Bayerisch Baklava" mit Hakim. Beide machen das richtig gut.

Zurück nach Vorderwiesengrund. Einem wirklich verschlafenen Nest. Die Menschen: behäbig, kleinbürgerlich, ohne große Visionen. Jeder hat seine Macken, jeder seine Probleme. Wenn sie etwas gemeinsam tun, dann singen sie im Chor. Mehr schlecht als recht. Der Bürgermeister will im Amt bleiben, Flüchtlinge, die verzweifelt Arbeit suchen, passen da gar nicht ins Muster. Doch die Bäckersfrau spürt, was es für eine Chance für das Dorf sein könnte, zusammen mit Achmadi und seinen Freunden neu anzufangen. Achmadi wird Bäcker. Und zum Glück hat er seinen Koffer. In den hat seine Schwester, die eine bekannte Bäckerin in seiner Heimatstadt Kabul ist, Backutensilien gepackt. Feingefühl, das richtige Mehl, die richtige Würze - und er backt Brezn der etwas anderen Art: goldene mit Orient-Geschmack. Migrations-Brezn.

Auch die Brezn spielt eine wichtige Rolle. (Foto: Robert Haas)

Schenkel, der zusammen mit Dramaturgin Ruth Zapf die Stücke des Theaters selbst schreibt und für seine Theaterarbeit mit geflüchteten Jugendlichen gerade mit dem Tassilo-Sozialpreis der Süddeutschen Zeitung ausgezeichnet worden ist, nennt sein Stück eine Dorfposse. Und das ist sie auch. Mit Schwank, mit Überzeichnung, mit starker Gestik und mit Witz. Die Dorfbewohner in schief sitzenden Filz-Jankern schlurfen mit Pantoffeln durch das Leben, ein schwarzer Dorfpfarrer mit bayerischem Dialekt lebt die Doppelmoral.

Aber das Stück ist weit mehr: Ein poetisches Gedicht in mehreren Strophen, starken Bildern und mit sehr empathischer Musik (Tajda Krajnc, Vera Drazic). Ruhig wird alles erzählt, aber mit dem großen Blick auf das Kleine und auch das Stille. Wenn Bäckerstochter Theresa (Kathrin Gerlsbeck) ganz vorsichtig und zart, die Hand von Achmadi nimmt und ihn mitzieht in ein neues Leben. Oder wenn hinter der großen Schattenwand die Menschen im Dorf gesichtslos werden, weil sie nichts zu sagen haben, sich wegducken. Oder wenn Achmadi die wundersame Vorderwiesengrund-Brezn backt. Im Stillen, für sich allein und abgewandt von der Öffentlichkeit, aber die Heimat im Herzen. Alle Gefühle und Ängste vereinen sich in Achmadis Frage an Theresa - sie verlor einst ihr Kind -, warum sie immer so traurig ist. "Du hast doch alles. Ein Zuhause, eine Mutter und die Bäckerei. Was hast Du verloren?" "Die Zukunft", sagt Theresa.

Sie wollen nur ankommen, arbeiten und respektiert werden: Die Geflüchteten müssen alle Register ziehen, und sei es mit Sonnenblumen. (Foto: Robert Haas)

Es sind diese Bilder, die das neue Stück im Park der Mohr-Villa so bezaubernd machen. Und der Blick in die Augen der Spielenden. In die glänzenden Augen jener, die durch die Bühne, durch eine Rolle Selbstbewusstsein erfahren. Oder wie Hakim sagt, durch dieses Eingebunden-Sein in eine Gruppe, "nicht ständig an die Vergangenheit" denken müssen. Professionelle Schauspieler und die jungen - eine ausbalancierte Bühnenkraft wirkt da. "Mit den Jugendlichen zu spielen", hat mich so sehr gereizt", sagt Kathrin Gerlsbeck alias Bäckerstochter. "Und was für eine schöne Erfahrung, zu sehen, was sie sich jetzt alles trauen."

Und Viktor Schenkel? Man sieht es ihm nicht an, aber er zittert im Stillen mit. Ganz unaufgeregt. Freut sich an jeder Szene, die gelingt. Das ist bei der Generalprobe so, und bei der Premiere. Er freut sich, dass alle begeistert und als Team mittun, dass die so erhofften grünen Bänke im Garten stehen, die ein Spender ermöglicht hat. Dass das Mikro geht, das noch einen Tag zuvor abgeraucht ist. Und die Bühne mit zwei echten, riesigen Bäumen so gut funktioniert. Der erste Gang, nachdem der Applaus am Premierenabend verebbt ist, führt ihn dann auch sofort hinter die Bühne. Zum Team, zu seinen "Zöglingen", die eines sind: glücklich.

Ein Mahner will er nicht sein, auch wenn die Botschaft des Stückes natürlich ein Plädoyer für Vielfalt und Toleranz ist. Herzen will er aufschließen. Und das tut er. Nicht pathetisch, sondern ganz leise. Denn das imaginäre Dorf Vorderwiesengrund ist nicht weit weg. Sondern ganz, ganz nah.

"Bayerisch Baklava": Theater Grenzenlos, Mohr-Villa-Park, Situlistraße 75. Spieltermine bis 12. September. Daten und Ticketverkauf über www.theater-grenzenlos.org.

© SZ vom 24.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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