Monacensia:Pfeffer-Note im Abgang

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Schnupperstunde im Hildebrandhaus: So riechen die Bücher von Thomas Mann

Von Jutta Czeguhn, Bogenhausen

"Unordnung und frühes Leid" riecht nach Medizin. Oder vielleicht doch nach alten Waffeln? Die beiden Frauen, die da an einem runden Tisch im Salon des Hildebrandhauses beieinander sitzen, sind sich alles andere als einig, wollen es aber auch gar nicht sein. Lachend schnüffeln sie abwechselnd an dem wunderschön illustrierten Band aus dem Ersterscheinungsjahr 1926 von Thomas Manns Novelle. Es gibt wahrscheinlich Myriaden von Deutungen und Interpretationen der Mannschen Bücher, dass sich jemand je mit der Nase seinem Œuvre genähert hätte, ist nicht bekannt.

Hisako Inoue hat sich die Waffel-Medizin-These der beiden Leserinnen angehört und hebt nun vehement nickend beide Daumen. Die japanische Künstlerin hat zu dieser Schnupper-Stunde in die Familie-Mann-Bibliothek der Monacensia geladen. Der Workshop war Teil ihres Kunstprojekts "Die Bibliothek der Gerüche" in der Villa Stuck, das an diesem Sonntag zu Ende geht. In den vergangenen Wochen konnte man in den historischen Prunkräumen des Museums viele Münchner tief und konzentriert über Buchseiten atmen sehen. Fächelnd wie Parfümeure wollten sie die Aromen der literarischen Werke ergründen, die ihnen Inoue unter Glasglocken bereitgestellt hatte. Dass die Japanerin nun mit einer Delegation neugieriger Nasen noch einen Abstecher in die andere Bogenhauser Künstlervilla, in die münchnerischste aller Bibliotheken, zum größten aller Schriftsteller unternahm, war ein hübscher Abschied der Frau aus Tokio.

Zur riesigen Sammlung der Monacensia gehören Übersetzungen von Thomas Manns Werken in nicht weniger als 45 Sprachen, darunter natürlich auch Japanisch. Auf einem Tisch hatte Hisako Inoue für die "Degustation" eine handverlesene Länderauswahl vorbereitet. Die russische Ausgabe von "Doktor Faustus" hat einen düsteren Einband. Das Exemplar muss auch Feuchtigkeit abbekommen haben, denn die Seiten wellen sich. Sie müffeln. Wunderbare Voraussetzungen also für eine Spürnase wie Hisako Inoue.

Erst seit ihrem 15. Lebensjahr kann Hisako Inoue ihre Umwelt riechen. Mittlerweile hat sie ihren Geruchssinn kultiviert. Eine Ausgabe von Thomas Manns "Tonio Kröger" etwa duftet nach Moos und Minze. (Foto: Czeguhn/oh)

Wegen einer Zahnfehlstellung als Kind konnte die Japanerin überhaupt erst im Alter von 15 Jahren ihre Umwelt riechen. Inzwischen hat sie ihre olfaktorische Wahrnehmung, also ihren Geruchssinn, ziemlich kultiviert. Heute arbeitet die Künstlerin, Jahrgang 1976, bei ihren Projekten sogar mit Neuro-Wissenschaftlern zusammen. Wenn sie nun in der Monacensia demonstriert, wie sie ein Buch sinnlich in sich aufnimmt, wirkt das beeindruckend routiniert. Dass sie, etwa beim russischen Doktor Faustus, die kyrillischen Buchstaben entziffern kann, ist dabei völlig ohne Belang: Zunächst wandelt ihre Nase die drei Seiten des geschlossenen Buchkörpers entlang. Hier säßen besonders viele Aromen, hinterlassen von den Fingern der Leser, erklärt sie. Dann riecht sie an der Vorder- und Rückseite, wo sich auch Wunderbares finden lasse, wie etwa Kaffee- oder Alkoholflecken. Zuletzt faltet die Künstlerin das Buch auf, nimmt mit geschlossenen Augen einen tiefen Atemzug zwischen den Papierseiten. "Ich liebe das", murmelt sie. Der Geruch des Doktor Faustus erinnere sie an ihren Großvater.

Auf den Tischen im Hildebrand-Salon kommt die Mannsche Weltliteratur auf den Prüfstand. Man hört viele "Ahs" und "Ohs". Die Workshop-Teilnehmer tauschen Sinneseindrücke und Geruchserinnerungen aus. Eine Frau empfindet eine Rezension eines Mann-Textes zunächst als angenehm duftend. Beim Blick auf das Erscheinungsjahr jedoch beginnt das Exemplar für sie schlagartig zu stinken. In ihrem Kopf ist etwas passiert. Die Dreißigerjahre. Die Nationalsozialisten, die die Familie Mann ins Exil trieben. An einem anderen Tisch freut man sich über einen alten Band, "er riecht nach Zeit". Und man sorgt sich um eine neuere Mann-Ausgabe, die "nach Zukunft" duftet. "Was aber wird mit diesen neuen Büchern passieren, wenn ich mich nicht mehr um sie kümmern kann", fragt eine ältere Frau.

Susanne Schmitt ist eine junge Ethnologin. Vor ihr liegt "La montaña mágica", eine Zauberberg-Ausgabe aus Argentinien. "Pfeffer im Abgang", sagt Schmitt spontan, und das reicht für ihre Tischnachbarin, um an Mynheer Peeperkorn zu denken, diese herrlich schwadronierende, versoffene Spottfigur im Panoptikum des Sanatoriums. Ein Assoziationsspiel hat sich in Gang gesetzt. Susanne Schmitt arbeitet selbst auch viel mit Gerüchen, kreiert sogenannte Smell Walks für Museen. Doch anders als Hisako Inoue bitte sie die Teilnehmer dieser Geruchsspaziergänge, nicht über ihre Wahrnehmungen zu sprechen. "Weil es ganz schnell passiert, dass man etwas riecht, nur um dann darüber reden zu können." Für sie sei Riechen eine Meditation, etwas, "wofür ich keine Worte habe".

Eine Ausgabe von Thomas Manns „Tonio Kröger“ duftet nach Moos und Minze. (Foto: Czeguhn/oh)

Gerade weil unser Vokabular, Gerüche zu beschreiben begrenzt ist, wollte Hisako Inoue mit ihrem Projekt in der Villa Stuck und mit dem Ausflug in die Bücherwelt von Thomas Mann dazu anregen, sich auf Erinnerungen einzulassen und sie mit anderen zu teilen. Das hatte auch Elisabeth Mann getan, Thomas' Lieblings-Tochter, der er in "Unordnung und frühes Leid" ein frühes literarisches Denkmal gesetzt hat. Noch im hohen Alter von 82 Jahren erinnerte sich Elisabeth an das Taschentuch des "Herrn Papale", wie sie ihren Vater nannte. Es roch so schön nach Veilchenwasser.

Finissage der "Bibliothek der Gerüche" in der Villa Stuck, Sonntag, 14. Januar, von 19 Uhr an spielt die bayerisch-japanische Band Coconami im Foyer. Der Eintritt ist frei.

© SZ vom 12.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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