Mission:Elend auf der Durchreise

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Notversorgung in der Bahnhofsmission: Manchmal helfen schon Tee und ein Butterbrot. (Foto: Stephan Rumpf)

Seit 120 Jahren unterstützt die Bahnhofsmission Gestrandete mit heißem Tee und menschlicher Wärme

Von Melanie Staudinger, München

Der Andrang ist am Samstag groß, noch viel größer als sonst. Das ist auch wenig verwunderlich, denn zum 120. Geburtstag der Bahnhofsmission am Münchner Hauptbahnhof haben die ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter Kuchen gebacken. Etwas Süßes haben viele der Besucher schon lange nicht mehr gegessen. Einige von ihnen sind obdachlos und wissen nicht wohin. Andere wiederum, vornehmlich aus Osteuropa, verdingen sich am nahen Arbeiterstrich und suchen einen ruhigen Ort zum Ausspannen. Von ein paar Menschen wissen nicht einmal die Helfer, warum genau sie hier in den Räumen neben Gleis 11 zwischen Luxushotel und Taxistand sitzen.

"Unser Angebot ist sehr niedrigschwellig", erklärt Bettina Spahn, die die Bahnhofsmission gemeinsam mit Simone Slezak leitet. Kommen kann jeder, einen Berechtigungsschein muss niemand vorlegen. Die Einrichtung versteht sich als eine Art Clearingstelle. Die Besucher oder Gäste, wie die Hilfesuchenden hier genannt werden, können von ihren Problemen erzählen, müssen aber nicht. Wer will, kann von den Mitarbeitern in reguläre Hilfsangebote weitervermittelt werden, Frauen dürfen nachts auch auf der Isomatte im Aufenthaltsraum schlafen. Normalerweise gibt es nur Butter- oder Schmalzbrote und Tee, ganz selten auch mal Apfelspalten. Luxus sieht ganz anders aus, und das bewusst. "Sonst würden die Besucher nur streiten, denn die meisten besitzen nichts", sagt Slezak.

Seit 120 Jahren existiert die Bahnhofsmission München, getragen wird sie von der evangelischen und der katholischen Kirche. Sie unterstützt nicht nur Arme, sondern jeden, der irgendwie gerade nicht weiterkommt. Sei es, weil eine Reisende den letzten Anschlusszug verpasst hat oder ein Rollstuhlfahrer Hilfe beim Umsteigen benötigt. Rund um die Uhr stehen die Mitarbeiter für Obdachlose, Flüchtlinge, psychisch Kranke und Menschen auf der Durchreise zur Verfügung. Im vergangenen Jahr hatten die rund 150 haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter mehr als 102 000 Kontakte zu Gästen. Pro Tag führten sie im Schnitt 60 Beratungsgespräche, Etwa 1250 Kinder wurden im Programm "Kids on Tour" beim Bahnfahren begleitet, 2350 Mal wurde beim Umsteigen geholfen. Jede Nacht schlafen bis zu vier Frauen, oft mit Kindern, in den von der Deutschen Bahn mietfrei überlassenen Räumen.

Bettina Spahn und Simone Slezak sehen jeden Tag das soziale Elend, die Schattenseiten des reichen Münchens. Die Zahl der Obdachlosen nehme zu, berichten die beiden, die Menschen seien verzweifelter, immer mehr litten an psychischen Krankheiten. Am vergangenen Samstag aber wollte die Bahnhofsmission feiern, auf ihre ganz eigene Weise: Es gab keine hochtrabenden Reden von Politikern, sondern einfach Kuchen für die Besucher, die auch an diesem Tag nicht ausgesperrt werden.

© SZ vom 24.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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