Medizin:Wenn Blutergüsse Geschichten erzählen

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Elisabeth Mützel leitet die Kinderschutzambulanz und untersucht dort Kinder, um festzustellen, ob sie misshandelt oder missbraucht worden sind. (Foto: Catherina Hess)

Hämatome sind im Gesicht eines Babys zu sehen: Ein Unfall? Wurde es geschlagen? Oder werden die Eltern ungerechtfertigterweise beschuldigt? Um solche Fragen geht es in der Kinderschutzambulanz.

Von Inga Rahmsdorf

Im Gesicht des Babys sind deutlich Blutergüsse zu erkennen. Ein Unfall in der Badewanne, sagt der Vater. Die Mitarbeiter vom Jugendamt haben Zweifel daran. Kann es wirklich sein, dass sich das Baby bei einem Sturz diese dunkelroten und blauen Hämatome zugezogen hat? Oder wurde es geschlagen? Eine Frage, mit der Vertreter des Jugendamtes ebenso konfrontiert werden können wie Kinderärzte, Erzieher, Lehrer, Mütter oder Väter.

Ist das Wohl des Kindes in Gefahr, liegt eine Straftat vor oder wird ein Elternteil ungerechtfertigterweise beschuldigt? Fragen, die meist nicht leicht zu klären sind, mit denen sich aber jeder an eine Beratungsstelle in München wenden kann: die Kinderschutzambulanz.

Die Einrichtung wurde 2011 am Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) gegründet und berät bayernweit. Die Rechtsmediziner bilden zudem Ärzte in ganz Bayern fort, kooperieren mit Jugendämtern, sensibilisieren für das Thema Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und vermitteln den Opfern weitere Hilfen und Anlaufstellen. Dieses Konzept der engen Vernetzung sei deutschlandweit einzigartig, sagt Matthias Graw, Chef des Instituts für Rechtsmedizin an der LMU, in dem die Kinderambulanz die zweitgrößte Abteilung ist. Die Arbeit könne man nicht hoch genug schätzen, lobte die bayerische Familienministerin Emilia Müller (CSU) die Einrichtung, die sie am Mittwoch besuchte. Indem die Rechtsmediziner Beweise sichern, interpretieren und dokumentieren, würden sie Klarheit schaffen. Die Ministerin sagte der Ambulanz daher für die nächsten vier Jahre eine weitere finanzielle Unterstützung des Freistaats von insgesamt 1,7 Millionen Euro zu.

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Hat ein Kind unklare Verletzungen, können Ärzte und Mitarbeiter von Jugendämtern sich online von den Rechtsmedizinern beraten lassen. Zudem ist die Ambulanz täglich 24 Stunden für alle telefonisch erreichbar. Kinder und Jugendliche können außerdem in dem Institut in der Nussbaumstraße untersucht werden. Im Wartezimmer liegen Bücher und Spiele und in den beiden Untersuchungsräumen sitzen bunte Stofftiere. In den vergangenen Jahren hat durchschnittlich mindestens ein Fall pro Tag die Ambulanz erreicht. Und die Zahlen steigen. "Trotzdem ist das Dunkelfeld noch sehr groß. Wir gehen davon aus, dass es noch viel mehr Fälle von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gibt", sagt Elisabeth Mützel, die Leiterin der Kinderschutzambulanz.

Die Professorin und ihre sieben Mitarbeiter haben die Fotos von dem Baby mit den Blutergüssen auf der Wange von einem Jugendamt erhalten. Ihre Aufgabe sei es dann, die Verletzungen neutral und objektiv zu untersuchen, sagt Mützel. Dabei würden sie alle Aussagen ernst nehmen. Schließlich könne es auch darum gehen, die Eltern zu entlasten.

In dem Fall mit dem Baby haben die Rechtsmediziner auch geprüft, ob die Verletzungen von einem Badewannenrand stammen können. Doch ihr Ergebnis war eindeutig: Man könne deutlich erkennen, dass die Verletzungen von Fingern stammen und das Baby geschlagen wurde, sagt Mützel. Und solch eine kräftige Ohrfeige könne bei kleinen Kindern sehr gefährlich werden. Was das für die Familie bedeutet, wie dem Baby geholfen werden kann und ob die Polizei eingeschaltet wird, darum muss sich das Jugendamt kümmern.

Alle Fälle in der Kindschutzambulanz werden immer von mehreren Medizinern begutachtet, erklärt Matthias Graw. Dabei kann sich auch herausstellen, dass die Verletzungen des Kindes nicht durch Gewalt zugefügt wurden. Einmal haben Eltern sich mit einem vierjährigen Sohn an die Ambulanz gewandt. Der Junge hatte große Blutergüsse am ganzen Körper und am Kopf, die Eltern waren schon von mehreren Seiten bezichtigt worden, ihr Kind zu schlagen, doch sie beteuerten ihre Unschuld. In Zusammenarbeit mit einer Klinik stellten die Rechtsmediziner dann fest, dass das Kind eine Bindegewebserkrankung hatte.

Nicht alle Fälle sind eindeutig und leicht zu klären. Die Rechtsmediziner können nur Verletzungen feststellen, die durch körperliche und sexualisierte Gewalt zugefügt wurden. Und gerade bei dem Verdacht auf sexuellen Missbrauch gibt es häufig keine sichtbaren körperlichen Folgen. Damit es in solchen Fällen und bei seelischer Gewalt oder Vernachlässigung künftig auch einen Ansprechpartner in der Ambulanz gibt, soll nun eine Sozialpädagogin in dem Team mitarbeiten.

© SZ vom 16.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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