Maxvorstadt:Biografie einer besonderen Schule

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Das städtische Fremdspracheninstitut hat anlässlich seines 75-jährigen Bestehens die Chronik seines Domizils an der Amalienstraße 36 recherchiert. Heraus kam ein erstaunliches Stück Stadtgeschichte

Von Jutta Czeguhn

Wenn die Wände dieses Schulhauses Stimmen speichern könnten wie die Wachsplatten eines frühen Phonographen, was wäre zu hören? Das markante Organ von Franz Josef Strauß vielleicht, wie er seinen Klassenkameraden beim Murmelspiel zeigt, was ein Alpha-Tier ist. Es wären die hastigen Schritte des kleinen Hugo Strasser zu hören, wie er die Holztreppen hoch saust auf der Suche nach seinem Vater, der hier Hausmeister war. Oder das nervöse Stottern eines schmächtigen Brillenträgers namens Heinrich Himmler, als ihn der Lehrer zur Tafel ruft. Würde einem Propaganda-Gebell von gleichgeschalteten Nazi-Pädagogen in die Ohren schlagen? Könnte man erfahren, wie Walter Klingenbeck gesprochen hat? Der junge Widerstandskämpfer war hier ebenso Schüler wie der Organisator der Judenvernichtung Himmler. Würde das dumpfe Grollen der Münchner Bombennächte in den Mauern widerhallen?

Erster Schultag 1946 an der Amalienschule. (Foto: Münchner Stadtmuseum)

Heute ist im Schulbau an der Amalienstraße 36 die Vielstimmigkeit der Welt zu Hause. Menschen aus 38 Ländern lehren und studieren am städtischen Fremdspracheninstitut (FIM), das 1945 die erste Schule Münchens war, die nach dem Weltkrieg neu gegründet wurde. Englisch war Amtssprache, die US-Militärregierung brauchte Dolmetscher. Das Institut zog zwar erst 1977 in den roten Backsteinbau, dennoch widmet es nun, aus Anlass seines 75-jährigen Bestehens, dem Baudenkmal eine Ausstellung. Erzählt wird von Menschen, die dort zur Schule gingen oder arbeiteten. Was das Team um Dozent Loïc Masson ausgegraben hat, ist mehr als eine Schulhaus-Chronik, vielleicht sogar mehr als Münchner Stadtgeschichte. Die Schau ist vom 2. März bis 29. April in der U-Bahn-Galerie, im Zwischengeschoss Nord des Uni-U-Bahnhofs, zu sehen.

NS-Opfer, NS-Täter - die Schulbau-Chronik schlägt die dunklen Kapitel ebenso auf wie die hellen. (Foto: Robert Haas)

Bei ihren Wühlarbeiten im Stadtarchiv und in der Bayerischen Staatsbibliothek sind die Pädagogen beispielsweise auf den Voreigentümer des Schulgrundstücks gestoßen, einen gewissen Carl Georg Reischauer (1832-1877). Der Mann war ein Pionier der Bierforschung und betrieb am Standort eine Brauerei auf wissenschaftlichem Niveau, mit Kontakten von St. Petersburg bis Cincinnati. Seine Witwe Adele war es, die das Anwesen an die Stadt verkaufte. Ihr Nachlass, der in einem Museum liegt, konnte nun erstmals für die Chronik eingesehen werden. Kaum Spuren im öffentlichen Bewusstsein hinterlassen hat auch Friedrich Loewel (1849-1914); zumindest hat man in München keine Straße nach ihm benannt. Loewel ließ den Schulbau an der Amalienstraße 1887 in Rekordzeit im Stil der deutschen Backstein-Renaissance hochziehen. Loïc Masson hat herausgefunden, das es die erste Volksschule mit eigenem Brausebad war, was von der Presse damals nicht als hygienischer Fortschritt gefeiert, sondern skandalisiert wurde. Und ihm gelang es im Rahmen seiner Recherchen, Nachfahren des Architekten ausfindig zu machen und zusammenzubringen, die voneinander nichts wussten. Eine Familienzusammenführung gab es auch bei den Strassers. In der ehemaligen Schulhausmeister-Wohnung von Simon Strasser, dem Vater des "Klarinetten-Hugos", trafen sich seine jüngste Tochter Elisabeth und sein Großneffe Joseph, die sich aus den Augen verloren hatten.

Heute bilden Renate Klar und Bill Soutter am Institut Übersetzer und Dolmetscher aus. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Simon Strasser war ein Königstreuer, als Mitglied einer monarchischen Widerstandsbewegung wurde er 1939 von der Gestapo festgenommen, kam nach Stadelheim und verlor seinen Job. Ein Opfer des Nazi-Terrors war auch Kaplan Georg Handwerker, der an der katholischen Amalienschule von 1933 an Religion unterrichtete. Weil er, so hat das Recherche-Team herausgefunden, während einer Religionsstunde die achte Knabenklasse "stehend" für Juden beten ließ, wurde er von den eigenen Schülern denunziert. Das war im Jahr 1935. Einer, der zu Handwerkers Schülern gehörte und den der mutige Kaplan wohl nachhaltig prägte, war Walter Klingenbeck, der ein paar Häuser weiter in der Amalienstraße wohnte. Mit nur 19 Jahren wurde Klingenbeck wegen Hochverrats 1943 hingerichtet. Sein Vergehen: Er hatte ausländische Sender gehört und selbst mit einem Schwarzsender und Flugblättern oppositionelle Nachrichten verbreitet.

"Wir haben hier Leute aus der ganzen Welt", sagt Renate Klar, die das Fremdspracheninstitut seit dreieinhalb Jahren leitet und selbst hier Schülerin war. Sie schwärmt von der besonderen Atmosphäre der Offenheit und Vielfalt an der Schule. Dass an einem Ort, in dem es heute schon quasi von Berufs wegen um Verständigung geht, einer der größten Menschheitsverbrecher wie Heinrich Himmler das Lesen und Rechnen gelernt hat, will einem nur schwer in den Kopf, wenn man durch die langen Gänge und das historische Treppenhaus streift, die quietschgrüne Tür zum Dolmetscher-Saal mit den Simultankabinen aufstößt oder den idyllischen Schulgarten betritt. Himmler - auch seine Familie wohnte zeitweilig in der Amalienstraße - verbrachte hier zwei Jahre seiner Grundschulzeit. Ein Foto zeigt den Knaben mit akkuratem Pony und Nickelbrille. Hannah Arendt wird den "Reichsführer SS" als kleinbürgerlichen Bürokraten beschreiben, der ein monströses Ausrottungsprogramm entwarf.

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(Foto: Privatsammlung)

Hugo Strassers Vater Simon war Hausmeister.

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(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Franz Josef Strauß war Schüler an der Amalienstraße.

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(Foto: lks)

Auch Walter Klingenbeck besuchte die Schule.

NS-Opfer, NS-Täter - die Schulbau-Chronik schlägt die dunklen Kapitel ebenso auf wie die hellen. Loïc Masson, sein britischer Kollege Bill Soutter und Renate Klar haben bei den Recherchen nicht wenige ehemalige Amalienschüler kennengelernt, viele Anekdoten und Geschichten gehört. Auch die vom kleinen Franz Josef Strauß, dessen Eltern um die Ecke an der Schellingstraße 49 eine Metzgerei betrieben. Er wurde im Frühjahr 1922 hier eingeschult. Mehr als sechzig Jahre später wird seine Tochter Monika durch das Rustikaportal des Schulbaus gehen, um Spanisch und Französisch zu lernen.

Die Schau in den Glasvitrinen der U-Bahn-Galerie ist frei zugänglich. Sein eigentliches Jubiläum feiert das Fremdspracheninstitut am 22. Mai mit einem Tag der offenen Tür. Dann wird auch die U-Bahn-Ausstellung noch einmal zu sehen sein, zudem eine eigene Instituts-Chronik.

© SZ vom 29.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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