Matthias Lilienthal übernimmt Kammerspiele:Ein Edelpenner für die Maximilianstraße

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Wechsel an den Münchner Kammerspielen: Matthias Lilienthal kommt, Johan Simons (rechts) geht. (Foto: Robert Haas)

Als freier Radikaler an ein städtisches Theater: Matthias Lilienthal wird wohl ab 2015 neuer Intendant der Münchner Kammerspiele und löst damit Johan Simons ab. Der Berliner ist bekannt dafür, Grenzen und Mittel des Theaters auszuloten, manchmal bis zum Gehtnichtmehr.

Von Christine Dössel

Diese Berufung ist ein Knaller: Matthias Lilienthal wird 2015 neuer Intendant der Münchner Kammerspiele. Der 53-jährige Berliner, lange Zeit Chefdramaturg und prägender Mitgestalter an Frank Castorfs Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und von 2003 bis 2012 künstlerischer Leiter des Berliner HAU (Hebbel am Ufer), tritt die Nachfolge von Johan Simons an, der seinen Vertrag nicht verlängert hat und 2015 Intendant der Ruhrtriennale wird. Mit den Kammerspielen übernimmt Matthias Lilienthal eine der bedeutendsten Schauspielbühnen Deutschlands. Gerade erst wurde das Haus zum "Theater des Jahres" gewählt - so wie letztes Jahr das HAU unter Lilienthals Leitung.

Münchens Kulturdezernent Hans-Georg Küppers stellte den waschechten Berliner am Montag vor - und bot damit einen echten Überraschungskandidaten. Nicht dass Lilienthals Name nicht schon seit geraumer Zeit auf allen möglichen Besetzungslisten kursieren würde, seit der Mann das HAU verlassen hat, ist klar: Hier sucht einer der besten - und best vernetzten - Theaterkenner, Theater(um)denker und Spartensprengmeister eine neue Aufgabe.

Aber in München und speziell auf der Luxusmeile Maximilianstraße, wo die Kammerspiele angesiedelt sind, konnte man sich den immer ein bisschen wie ein Kreuzberger Straßenköter daherschlurfenden "Edelpenner" (O-Ton Lilienthal) eher nicht so gut vorstellen. Lilienthals Name stand als Spekulation jedenfalls nicht im Raum, wie überhaupt kaum etwas nach außen drang von dem stillen - und man muss auch sagen: sehr verantwortungsbewussten - Findungsprozess, in dem Küppers sich für einen Leiter an Münchens wichtigstem städtischen Theater entscheiden musste. Oder für eine Leiterin - die Freiburger Intendantin Barbara Mundel wurde heiß gehandelt.

Ein mutiger Schritt von der Stadt

Eine sogenannte Findungskommission beruft man bei Theatern vom Renommee der Münchner Kammerspiele gemeinhin nicht, aber Küppers hat natürlich Berater seines Vertrauens. Und wer immer das gewesen sein mag: Man muss ihm und ihnen gratulieren zu der Risiko- und Öffnungsbereitschaft, die das Bekenntnis zu einem theatralischen Grenzgänger und Global Player wie Lilienthal bedeutet. Als ausgewiesener Theaterfachmann war Lilienthal zuletzt auch für die Intendanzen am Schauspielhaus Hamburg, in Köln und Stuttgart im Gespräch - doch einen solchen freien Radikalen und Interdisziplinärmeister der Performing-Arts-Szene an ein klassisches Stadttheater zu holen, erfordert jenen Mut, der den meisten politischen Entscheidern letzten Endes dann halt doch fehlt.

München ist da viel weiter als andere Städte. Schon mit der Berufung des niederländischen Regisseurs Johan Simons zum Nachfolger von Frank Baumbauer 2010 hat die Stadt, namentlich Hans-Georg Küppers, jene Weichen für eine Öffnung, Europäisierung und Internationalisierung der Kammerspiele gestellt, die dieses Theater, an dem inzwischen auch holländische und belgische Schauspieler zum Ensemble gehören, zum avanciertesten in der deutschen Theaterlandschaft machen.

Schluss mit der "Kunstkacke"

Dass es mit Matthias Lilienthal, der große Häuser schon mal als "vernagelte Stadttheaterkisten" bezeichnet, noch viel weiter in diese Richtung gehen wird, steht außer Frage. Klassisch werktreues Literatur- und Bildungsbürgertheater ist mit diesem Diskursdenker nicht zu haben. So etwas kanzelt er mit seiner Berliner Schnauze schon mal als "Kunstkacke" ab.

Er habe eine "hysterische Sehnsucht nach Realität", erklärte Lilienthal 2003, als er das HAU übernahm. Neun Jahre lang hat er an diesem Kreuzberger Theaterkombinat, bestehend aus dem Hebbel-Theater (HAU 1), dem Theater am Halleschen Ufer, in dem einst die Schaubühne unter Peter Stein zu Hause war (HAU 2) und dem Theater am Ufer (HAU 3), mit Riesenerfolg eine Art Dauerperformance gegeben. Tanz, Film, Architektur, Bildende Kunst, Musik, Doku-Theater, Reenactments, urbane "Exkursionen" und "Interventionen" gingen die unterschiedlichsten Mischformen ein.

Für 2014 bereitet der Vielflieger Lilienthal gerade das Festival "Theater der Welt" vor, das in Mannheim stattfinden wird. Aber im Grunde hat er schon das kleine HAU als großes "Theater der Welt"-Festival betrieben - mit vielen internationalen Gastspielen und Produktionen, die im Kreuzberger Kiez auch die Zuschauer mit Migrationshintergrund ins Theater lockten. Da inszenierte der Regisseur Neco Çelik zum Beispiel das Stück "Schwarze Jungfrauen", in dem junge islamische Frauen, die in Deutschland leben, von ganz intimen Dingen erzählen.

Das Regie-Kollektiv Rimini Protokoll brachte nicht nur indische Callcenter-Mitarbeiter und arabische Muezzins auf die Bühne, sondern erklärte in einer spektakulären HAU-Produktion gleich die ganze Daimler-Aktionärsversammlung im Berliner ICC zum Theater. Am HAU wurden die Grenzen und Mittel des Theaters ausgelotet, manchmal auch ausgereizt bis zum Gehtnichtmehr. Ein Labor. Aber auch ein Partyraum. Schnittstelle der Künste. Gruppen wie She She Pop oder Gob Suad, Künstler wie Anna Viebrock, Constanza Macras, Chris Kondek hatten hier ihren Ort.

Entdecker von Schlingensief

An die tausend Produktionen hat Lilienthal in seinen neun Jahren am HAU herausgebracht, das sind ungefähr 120 pro Spielzeit. Ein irrsinniger Output. Aber Überforderung gehört bei ihm nun mal zum Konzept. Das hat er bei Frank Castorf gelernt, aus dessen Schule er einerseits kommt, die er andererseits aber auch entscheidend mitgeprägt hat.

Castorfs epochaler Erfolg an der Berliner Volksbühne in den Neunzigerjahren wäre ohne Lilienthal, seinem Chefideologen und dramaturgischen Beistand in der Zeit von 1991 bis 1998, nicht denkbar gewesen. Lilienthal holte Künstler wie Johan Kresnik, Christoph Marthaler und den damals als Theaterregisseur noch völlig unbeleckten Christoph Schlingensief ans Haus. Die ganze berühmte Volksbühnen-Ästhetik - die ist auch Lilienthals Verdienst. Castorf hat diesem gerne etwas raunzig sich gebenden, aber ausgesprochen warmherzigen und integren Westberliner - geboren am 21. Dezember 1959 in Berlin-Neukölln - viel zu verdanken, und das weiß er auch.

Kennen gelernt haben sie sich am Theater Basel, wo Lilienthal nach seinem Studium der Geschichte, Germanistik und Theaterwissenschaften an der FU Berlin und Tätigkeiten als freier Journalist von 1988 bis 1991 Dramaturg war - und zwar, hier schließt sich der Kreis, unter der Intendanz von Frank Baumbauer, der später dann, von 2001 bis 2008, den großen ästhetischen Wandel an den Münchner Kammerspielen nach der 25-jährigen Ära von Dieter Dorn überhaupt erst eingeleitet hat. Lilienthals Berufung setzt diese Linie hin zu einem forcierten, sich den Gegebenheiten einer globalisierten Welt öffnenden, mit dieser Welt rechnenden und sie einbeziehenden Stadtheater in konsequenter Weise fort.

Dass Matthias Lilienthal die Kammerspiele nicht mit einem Tummelplatz des Off-Theaters verwechseln wird, sondern weiß, was ein Ensembletheater wie dieses in einer Stadt wie München einlösen muss, sollte man dem Mann von der Volksbühne zutrauen. Seine persönliche München-Kompatibilität wird sich indes erst noch erweisen müssen. Bei seiner Vorstellung am Montag trug er schon mal ein Sakko statt der geliebten Jeansjacke und hatte die strähnigen Haare geschnitten. Und mit dem Versprechen, internationale Künstler mit "lokalen Geschichten" zu verbinden - er denke da etwa an Josef Bierbichlers Roman "Mittelreich" - machte er auch inhaltlich schon erste Konzessionen an die neue bayerische Heimat. Es hat sich noch so mancher Preuße in München bewährt.

© SZ vom 17.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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