Literatur:Zeichen von gestern gedeutet für heute

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Im Lyrik Kabinett lassen sich Dichter und Performer von Eugen Gomringer und der Konkreten Poesie inspirieren

Von Sabine Reithmaier, München

Eugen Gomringer wirkte zufrieden. Konzentriert lauschte der 95-jährige "Vater der Konkreten Poesie" den zwölf Dichtern und Performern, die sich von seinen Ideen inspirieren hatten lassen. Die Weiterentwicklung freilich führte sie in ganz unterschiedliche Richtungen. Der Eröffnungsabend des "Festivals für Visuelle Poesie" im Lyrik Kabinett bot eine beeindruckende Bandbreite an englischsprachiger und deutscher Dichtung.

Kimberly Campanello übernahm mit ihrem großartigen, fragmentarischen Text "Motherbabyhome" den Anfang. Eine Eichenschachtel am Tisch, darin auf transparentem Pergament gedruckte Zeilen, Texte, die Campanello sprechend auf den Boden wirft und dort suchend umherkriecht - eine einprägsame Erinnerung an die 796 Säuglinge und Kinder, die im Mutter-Kind-Heim von St. Mary in Tuam, Irland, zwischen 1926 und 1961 gestorben sind. Amüsant dagegen Gerhild Ebels grafische Folge "antonyme" (1997), in der sie Wort und Bild verbindet, indem sie Wortgegensatzpaare grafisch verknappt, gedreht und gegeneinander im Siebdruck auf weißes Papier gedruckt hat. Mit den Bedeutungen von Satzzeichen experimentierte Victoria Bean, während Barrie Tullet leidenschaftlich den "Song for an Art School" interpretierte.

Robert Montgomery, der seine Gedichte meist auf Hauswänden in London großformatig plakatiert, deklamierte, das Plakat in Händen, seine kritischen Verse. Chris McCabe, der mit "Dedalus" James Joyces "Ulysses" weiterschrieb, überlegte, was Joyce im Zeitalter der sozialen Medien getan haben könnte; Steven J. Fowler erzählte von den 1000 Ideen für seine Performance und der Angst, jetzt genau die falsche auszusuchen. Er nahm den Festivaltitel "Klang Farben Text" wörtlich, tauchte Großbuchstaben in Farbwasser und setzte sie variantenreich zu mal mehr, mal weniger sinnstiftenden Wörtern zusammen. Lediglich Michael Lentz, der mit Fowler und McCabe das Festival kuratierte, war nur als Audio-Zuspielung vertreten mit seinen Variationen zum Büchner-Zitat "vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so".

Gomringer hatte eingangs noch einmal der Anfänge der Konkreten Poesie gedacht und daran erinnert, wie er die ersten Bilder Max Bills 1944 in Zürich sah und beschloss, Linien und Vierecke in Poesie umzusetzen. 1951 schrieb er "ping pong", 1952 folgte "avenidas". 1953 erschienen seine "konstellationen constellations constelaciones", 16 Gedichte in drei Sprachen.

"Und hat sich was geändert", fragte er, als er "cars and men" gelesen hatte. Die Digitalisierung mache alles so gleichmäßig und langweilig. "Wir müssen einen Weg zurückfinden zur Wahrheit von Wörtern, die man liebt." Und las "avenidas", das wegen der Schlusszeile "Alleen und Blumen und Frauen und/ein Bewunderer" für so viel Erregung gesorgt hatte. "Aber Dichter zu sein und Bewunderer - das ist ungefähr eines."

Klang Farben Text , Performances mit sechs Künstlern, Donnerstag, 5. März, 19 Uhr, Lyrik Kabinett

© SZ vom 05.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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