Vor vier Jahren sah alles ganz anders aus. Damals ging Pierre Jarawan davon aus, dass er beides bleiben würde: Poetry-Slammer und Autor. "Ich finde, das ist dasselbe", sagte er. Kurz zuvor war sein Debüt "Am Ende bleiben die Zedern" (Berlin Verlag) erschienen. Der mehr als 400-seitige Roman, der teils in Deutschland, teils im Libanon angesiedelt ist, wurde ein Erfolg und ist bereits mehrfach übersetzt worden. Der Münchner Autor war viel auf Lesereise, beispielsweise in den USA, "28 Städte in sechs Wochen", sagt er. Immer noch ist er mit dem Debüt unterwegs. Doch nun, Anfang März, kommt etwas Neues hinzu: sein zweiter Roman "Ein Lied für die Vermissten" (Berlin Verlag). In München stellt er ihn im Literaturhaus vor, im Saal. Eine Ortswahl, die deutlich macht, dass bei diesem Autor mit viel Interesse gerechnet wird.
Auf die vergangenen Jahre blickt Jarawan bei einem Gespräch Ende Februar scheinbar selbst staunend zurück. Hinter ihm liegt gerade ein Workshop in Creative Writing in North Carolina, vor ihm eine Lesung in Den Haag, dazwischen hat er Termine in Göttingen und Berlin. Die Zeit für den Nachfolgeroman habe er sich regelrecht freischaufeln müssen, sagt er. Poetry- Slam sei für ihn nicht mehr möglich. "Seit vier Jahren habe ich keinen Bühnentext mehr geschrieben." Nur noch als Moderator sei er beim Isar-Slam dabei. Vermissen würde er es nicht. Jetzt, wo er Figuren, Szenen, Landschaften ausgestaltet habe, komme ihm die andere Form zu kurz gegriffen vor. Slam und Roman ist also doch nicht ganz dasselbe. "Das erste Buch hat alles auf den Kopf gestellt", sagt der 34-Jährige heute.
Und nun kommt also "Ein Lied für die Vermissten". Jarawan, der Sohn einer Deutschen und eines Libanesen, hat erneut den Schauplatz Libanon gewählt. Sein Ich-Erzähler Amin hat als Kind während des libanesischen Bürgerkrieges einige Jahre in Deutschland gelebt. Er ist Waise, seine Großmutter zieht ihn auf. Mit ihrer Rückkehr nach Beirut beginnt die Zeitspanne der Romanhandlung. Dort lernt Amin sowohl sein Heimatland als auch die Geschichte seiner Familie kennen. Immer wieder rücken dabei der Bürgerkrieg und die darin verübten Verbrechen in den Blick.
Ausgangspunkt für Jarawans Roman ist dabei zum einen ein Amnestiegesetz, das den Tätern Straffreiheit für im Bürgerkrieg vergangene Verbrechen gewährt. Zum anderen geht es um die nach offiziellen Angaben 17 415 Menschen, die nach wie vor im Libanon vermisst werden, willkürlich verschwunden zwischen 1975 und 1990. Es sind politische Themen, denen sich der Münchner Autor hier nähert. Und es ist bei aller Leichtigkeit des Romans, der sich auch als Coming-of-Age-, Liebes-, Freundschafts- und Familiengeschichte lesen lässt, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Libanon. Im ersten Buch habe er dieses Land noch teilweise verklärt, sagt Jarawan. Doch sein Blick habe sich mittlerweile geändert. Noch immer müsse er strahlen, wenn er an den Libanon denke. Aber: "Das Nachdenkliche wird sofort darauf folgen."
Gerade in diesen Tagen ist dies besonders deutlich zu spüren. Der Libanon steuert erneut auf eine Krise zu. Kurzzeitig wollte die nationale Fluggesellschaft die eigene Landeswährung nicht für den Kauf von Tickets zulassen, wobei die libanesische Zentralbank 99 Prozent der Anteile an der Fluglinie hält. Jarawan macht in seinem Roman die Bankenkrise als einen Brandbeschleuniger für den Bürgerkrieg aus. Ob er jetzt Sorge habe? "Die muss man haben", sagt er. "Es lohnt sich, einen Blick darauf zu haben." Doch in einem ist er auch zuversichtlich: "Die Hoffnung liegt auf der jüngeren Generation, die den Krieg nicht erlebt hat."
Für "Ein Lied für die Vermissten" hat Jarawan an unterschiedlichen Stellen recherchiert. Zweimal sei er im Libanon gewesen, in dem Land, das er bis zum Studium jährlich besucht habe, danach in größeren Abständen. Er habe in Archiven in Beirut nachgeforscht, sich durch verschiedene Publikationen zum Bürgerkrieg gelesen, mit Jugendlichen gesprochen, die vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland geflohen sind, ebenso mit Mitarbeitern des Roten Kreuzes, die die Angehörigen der Vermissten betreuen. "Eine gute Quelle ist auch Youtube", sagt Jarawan. Hier gebe es Videos ehemaliger Milizionäre, die über ihre Erfahrungen sprechen. Aus all dem komponierte Jarawan seinen Roman. Die Ich-Perspektive lässt ihn dabei immer nah an der Figur bleiben, die stets subjektive Eindrücke sammelt, keine generellen Wahrheiten für sich reklamiert. "Ich glaube, Literatur kann zum Erinnern zwingen", sagt Jarawan. "Unterhaltung ist ein gutes Mittel, den Menschen Themen näherzubringen." Und gerade für seinen neuen Roman gelte: "Zugänglichkeit ist in diesem Fall wichtig." Das Thema sei: "Was macht Schweigen? Was macht transgenerationales Schweigen?" Fragen, die auch aus deutscher Sicht interessant seien, findet Jarawan.
An den großen Themen hat sich der Autor nun Jahre abgearbeitet. Allein 150 Seiten habe er gelöscht, erzählt er. Einen komplett anderen Romananfang habe er dann geschrieben. Seine ursprüngliche Hauptfigur ist nur noch eine Nebenfigur. Und auch die Idee, von einer Bloggerin während des Arabischen Frühlings zu erzählen, habe er verworfen. "Ich fühle mich noch einmal gereift nach dem zweiten Buch", sagt er. Die Trennung von den vielen Seiten, die in acht Monaten langer Arbeit entstanden seien, habe ihm gezeigt, dass auch dies einen weiterbringen könne. "Die Unsicherheit gehört dazu", sagt er. Und so kann er jetzt auch für sich feststellen, dass ihn der Poetry-Slam auf den Weg zum Romanautor gebracht habe. "Ein Umweg", sagt er. Aber eben ein notwendiger.
Pierre Jarawan: Ein Lied für die Vermissten , Lesung, Montag, 2. März, Literaturhaus München