Lesung:Eine heilbare Welt

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Ali Mitgutsch prägte mit seinen Wimmelbüchern Generationen von Kindern. Jetzt erinnert er sich an seine eigene Kindheit

Von Barbara Hordych

Eine 200 Quadratmeter große Wohnung im vierten Stock eines Wohnhauses in der Türkenstraße. Ali Mitgutsch trägt Lederweste und sein Markenzeichen, das orientalische Mützchen. Zum Gespräch bittet er in die Küche, zugegen ist auch Ingmar Gregorzewski, der gemeinsam mit dem bald 80-jährigen dessen Kindheitserinnerungen aufschrieb. Das Buch "Herzanzünder" stellen sie am Dienstag bei Lehmkuhl vor. "Ich habe oft bei seinen Vorträgen erlebt, wie sehr die Zuhörer sich für die Erzählungen aus seiner Kindheit interessierten, da dachte ich mir, in der Mine muss man weiter graben", sagt Gregorzewski, der Mitgutsch seit achtzehn Jahren als Berater in Medienbelangen zur Seite steht. Wichtig sei es ihm gewesen, sagt der Publizist und Drehbuchautor Gregorzewski, die "sehr humorvolle, menschliche und warme Stimme" zu erhalten. Die durch Leiden und Mitleiden entstanden ist, wie Mitgutsch selbst sie charakterisiert. Leiden?, fragt man unwillkürlich angesichts der fröhlich bunten Wimmelwelt seiner großformatigen Bilderbuchklassiker.

Und schon befindet man sich mitten im letzten Kriegswinter, in dem der damals neunjährige Ali, seine Mutter und die beiden älteren Schwestern die Münchner Maxvorstadt verließen und in einem "Kuhdorf am Ende der Welt", im Allgäu, in Sicherheit gebracht wurden. Was wie der Auftakt einer idyllischen Lebensphase klingt, entwickelte sich im Falle des kleinen Ali zu einem Horrorszenario. Der Lehrer seiner winzigen Schule hätte selbst lieber in München gelebt, wurde aber in dieses Kaff versetzt und habe sich dafür an den Stadtkindern gerächt, erklärt sich Mitgutsch in der Rückschau dessen Charakter. "Durch sein sadistisches Verhalten warf er mich meinen Mitschülern quasi zum Fraß vor. Sie konnten mit mir machen, was sie wollten. Sie jagten mich, schlugen mich und beschuldigten mich", heißt es dazu in seinem Buch. "Es sei denn, ich war schnell genug, um ihnen zu entkommen", kommentiert der Autor. Es sei sehr ungewöhnlich, dass er diese Episoden seelisch und körperlich gut und ohne Verbitterung überstanden habe, attestierte ihm ein befreundeter Psychiater Jahrzehnte später.

Die verschiedenen Gesichter der "Auer Dult": "Ich setze die Seiten sorgfältig aus den einzelnen Szenen zusammen", erklärt Ali Mitgutsch. (Foto: Abbildung: Ravensburger)

Nun, da war ja auch immer das Gegengewicht, die Eltern, mit denen viel geredet wurde, die zwei Schwestern, der geliebte ältere Bruder. Darüber hinaus besaß Ali die Gabe, sich in seine Fantasiewelt zurückzuziehen. "Wobei es wichtig war, diese auch wieder zu verlassen". Geholfen habe ihm dabei, dass er zu seiner Verwunderung irgendwann bemerkte, "dass ich trotz meines geringen Selbstbewusstseins bei den Mädchen gut ankam".

Aus der Not seiner Legasthenie entstand bei seinem ersten Liebesbrief ein Kunstwerk: Um die mühevoll zu der Frage "frei?" gruppierten Buchstaben herum malte er Blumen und Ranken, um dem Wort "einen eleganten kostbaren Schatten zu geben". Die so Umschwärmte war begeistert von dem "grafischen Liebesgeständnis" des Vierzehnjährigen. "Ich hatte eine Schrift gefunden, in der es mir leichtfiel, endlos und fehlerfrei zu fabulieren: die Zeichnung", sagt er. Eine Erfahrung, die ihm den Weg wies für sein späteres Grafikstudium - und zu den sich selbst erzählenden Bilderbuchwelten, die seine Legasthenie unwichtig werden ließen.

Den Anstoß zu letzteren gab übrigens der Pädagoge Kurt Seelmann, in den Sechzigerjahren Direktor des Stadtjugendamtes in München. "Der sagte mir eines Tages, er brauche etwas, um mit Kindern das Erzählen zu üben. Ein Buch, in dem einerseits alles gleich bleibt, das andererseits aber immer wieder aufs Neue interessant ist." Damit war der Anstoß für das erste Wimmelbuch "Rundherum in meiner Stadt" (1968) gegeben, für das Mitgutsch sogleich den deutschen Jugendbuchpreis bekam.

Orientalisch anmutende Kappe, scharf geschnittenes Gesicht: Ali Mitgutsch. (Foto: Angelika Bardehle)

Wenn man so will, wurzelt auch ein weiteres Erzählprinzip in seiner eigenen Kindheit. Die Mutter, eine tief religiöse Frau, konnte unglaublich bildhaft gruselige Heiligengeschichten mit oft qualvollen Toden erzählen. Einmal gab es eine Geschichte, in der einer nur scheintot war, erinnert sich Mitgutsch. Von da an hatten seine Schwester und er den Schlüssel, diese schlimmen Geschichten abzuändern. "Gell, der war nur scheintot?", bettelten sie die Mutter an. Und sie habe sich darauf eingelassen. Dass er Geschichten beeinflussen konnte, sei ein unglaublich prägendes Erlebnis gewesen. "Auch in meinen Büchern geht es mir nicht darum, eine heile Welt zu zeichnen - aber eine heilbare, in der es immer die Möglichkeit gibt, dass sich alles zum Guten wendet."

Herza nzünder , Lesung mit Ali Mitgutsch und Ingmar Gregorzewski, Di, 19. Mai, 20 Uhr, Lehmkuhl, Leopoldstr. 45, 380 15 00

© SZ vom 18.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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