Inklusion:Mehr als eine besondere Geste

Lesezeit: 3 min

Peter-Jacob Craxton von der Hochschule Landshut (rechts) hat Klaus Jacobi aufgenommen, wie er Gebärden für Fachbegriffe aus der Buchbinderei ausführt. (Foto: Catherina Hess)

Um Gehörlosen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern, werden Fachbegriffe aus verschiedenen Berufsfeldern in einem digitalen Gebärdenlexikon erfasst. In der Buchbinderei der Pfennigparade in Unterschleißheim hat Geselle Klaus Jacobi 123 Wörter beigesteuert, darunter "Fadenheftung" und "Rillen".

Von Sophia Coper, Unterschleißheim

Es wird wild durcheinander geredet und dennoch hört man nicht viel mehr als das sanfte Schleifen von Papier. Während ein Teil der Belegschaft in der Handbuchbinderei der Stiftung Pfennigparade in Unterschleißheim konzentriert arbeitet, stehen Susanne Schmidt und Christiane Harms in der Mitte des Raumes und schauen aufmerksam zur Seite. Dort übersetzt eine Dolmetscherin die Willkommensworte der beiden für einen Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in eine fremde Sprache - ohne dabei ihre Lippen zu bewegen.

Harms ist eine der Leiterinnen des vierjährigen bundesweiten Projekts "Digitale Unterstützung für gehörlose Menschen und ihre Arbeitgeber", welches sich zum Ziel gesetzt hat, Fachgebärden zu identifizieren, aufzuzeichnen und diese in einer digitalen Datenbank zur Verfügung zu stellen. Gefördert durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, setzt das Projekt den Fokus auf die Kommunikation in gewerblichen Berufen. Als einer von mehreren Kooperationspartnern ist auch die Handbuchbinderei der Pfennigparade mit an Bord.

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"Auf unserem Logo steht ,Die Zukunft zählt auf uns', und es ist uns eklatant wichtig, diese Aussage mit Inhalt zu füllen", eröffnet Susanne Schmidt, die als Prokuristin der Pfennigparade vorsteht, die kleine Konferenz. "Sobald wir angefragt werden und Kapazitäten besitzen, möchten wir aktiv solche Projekte unterstützen", sagt Schmidt. Auch in der Handbuchbinderei mache sich der Fachkräftemangel bemerkbar. Von dem digitalen Fachlexikon erhoffe man sich, gehörlosen Menschen den Einstieg in das Berufsfeld zu erleichtern.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten in Deutschland 2021 knapp 50 000 Menschen, deren Behinderung unter die Kategorie "Taubheit" fällt. Von diesen sind rund 30 000 Menschen im erwerbsfähigen Alter, Erkenntnisse zum tatsächlichen Beschäftigungsanteil liegen laut einer Auskunft der Deutschen Bundesregierung auf eine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion im November 2022 nicht vor.

Besuch in der Buchbinderei: Susanne Schmidt, Prokuristin der Pfennigparade, und Christiane Harms, die das Projekt "Digitale Unterstützung für gehörlose Menschen und ihre Arbeitgeber" leitet (stehend von links). (Foto: Catherina Hess)

"Wir sind bei der Auswahl der Kooperationspartner danach gegangen, wo bereits viele Gehörlose arbeiten", erläutert Harms. Neben der Handbuchbinderei habe bereits das Luftfahrunternehmen Airbus, eine IT-Firma sowie eine Zahnarztpraxis Fachgebärden beigesteuert, doch "weitere Berufsfelder können noch dazukommen", betont Harms, das Projekt laufe noch bis 2025.

In Unterschleißheim hingegen ist die Arbeit vorerst abgeschlossen. Peter-Jacob Craxton - wissenschaftlicher Mitarbeiter eines der Projektpartner, der Hochschule Landshut und selbst gehörlos - hat mit Hilfe von Handbuchbindergeselle Klaus Jacobi 123 Fachgebärden identifiziert und Jacobi dabei aufgenommen, wie er diese ausführt. Unter "Medientechnologie/Druck" kann man die Videos bereits auf der Webseite "Sign4All.de" abrufen. Vor einem blauen Hintergrund führt Jacobi Begriffe wie "Fadenheftung" oder "Rillen" aus, sämtliche Wörter sind dem Thema Papier und Buchbinden zuzuordnen. Stolz steht der Mitarbeiter der Pfennigparade neben dem Bildschirm und präsentiert das Material.

"Das Lexikon soll die Inklusion fördern, indem es den Umgang von Gehörlosen und Hörenden erleichtert", lässt Craxton durch die Dolmetscherin übermitteln. Erst seit 2002 sei die Deutsche Gebärdensprache - Projektkollege Jacobi bezeichnet sie einmal als "Muttersprache" der Gehörlosen - offiziell anerkannt, auch hier gebe es nationale Unterschiede und regionale Dialekte. Eine Erweiterung und Systematisierung des Vokabulars verschaffe den Gehörlosen somit nicht nur mehr Selbstbewusstsein, sondern auch Berufsmöglichkeiten, so Craxton.

"Gehörlose Jugendliche besitzen bei ihrer Berufswahl mehr Freiheiten, Dolmetscher können auf ein einheitliches Lexikon zugreifen"

"Die meisten Gehörlosen sind funktionale Analphabeten, da unsere Schriftsprache auf Phonetik basiert", bekräftigt Christiane Harms die Aussagen des wissenschaftlichen Mitarbeiters. Als Folge hätten in der Vergangenheit viele taube Menschen beim Wissensstand nicht mithalten können und seien somit nur für bestimmte Berufsfelder als qualifiziert angesehen worden. Die schnell und unkompliziert abrufbare Datenbank ist laut Harms ein notwendiger Schritt, um dies zu ändern. "Es ist für viele ein Gewinn, die Gebärden zur Verfügung zu haben", sagt sie. "Gehörlose Jugendliche besitzen bei ihrer Berufswahl mehr Freiheiten, Dolmetscher können auf ein einheitliches Lexikon zugreifen." Besonderheit sei zudem die Funktion der Gebärdensuche. "Wenn sie die Gebärde sehen, aber die Bedeutung nicht kennen, können sie diese auf der Webseite suchen. Das funktioniert tatsächlich", sagt sie und scheint selbst etwas verblüfft.

Der Nachmittag in der Pfennigparade ist für die Hörenden durchzogen von Momenten des Innehaltens, damit die Dolmetscherin in Ruhe für die tauben Anwesenden übersetzen kann. "Wir sind ausgeschlossen, wenn sie mit den Händen kommunizieren, und erleben kurz, wie sich Gehörlose den ganzen Tag über fühlen", sagt Roman Sellier, stellvertretender Betriebsleiter der Pfennigparade, der die Veranstaltung im Publikum begleitet hat. Umso bedeutender seien Projekte, die die Notwendigkeit sähen, etwas zu verändern: "Das Thema ist so wichtig, denn es läuft so unbemerkt nebenher", sagt Sellier und hebt zum Schluss beide Arme. Indem sie die Hände in der Luft schütteln, applaudieren alle überschwänglich für das Projektteam. Zart übertönt von dem Schleifen von Papier im Hintergrund.

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