Vorausgeschaut:Weihnachtsbotschaft aus Charkiw

Vorausgeschaut: Daria Khramtsova (am Klavier) probt mit den Sängerinnen des Ukrainischen Folklorechors für den Auftritt auf dem Unterschleißheimer Christkindlmarkt.

Daria Khramtsova (am Klavier) probt mit den Sängerinnen des Ukrainischen Folklorechors für den Auftritt auf dem Unterschleißheimer Christkindlmarkt.

(Foto: Robert Haas)

Die Musikerin Daria Khramtsova ist auf der Flucht vor den russischen Bomben in Unterschleißheim gestrandet und hat dort mit Landsleuten den Ukrainischen Folklorechor gegründet. Am ersten Advent tritt er beim Christkindlmarkt auf.

Von Bernhard Lohr, Unterschleißheim

Wenn Daria Khramtsova am ersten Adventssonntag um 15 Uhr mit ihrem Chor auf die Bühne tritt, dann schließt sich für die junge Frau aus Charkiw ein Kreis. Sie ist vor den Bomben der russischen Armee geflohen. Sie ließ viel zurück und kam am 11. März in Unterschleißheim an, wo sie mit vielen anderen im Infinity-Hotel eine erste Bleibe fand. 200 Geflüchtete lebten zwei Monate lang in dem Vier-Sterne-plus-Haus, in dem sonst die Fußballstars des FC Bayern einchecken und eben erst die Football-Ikone Tom Brady logierte. Die 27-Jährige fing dort mit Landsleuten an, Lieder aus der Heimat zu singen. Der Chor existiert bis heute. Und jetzt gibt der Ukrainische Folklorechor auf dem Christkindlmarkt ein kleines Konzert - vier Lieder aus der alten Heimat in der neuen Heimat auf Zeit.

Nach zwei Jahren Pause können wieder ohne größere Einschränkungen auf den Markt- und Dorfplätzen im Landkreis München Christkindlmärkte stattfinden. Glühweinduft zieht bald durch die Budenstraßen und es wird musiziert. In Unterschleißheim bringt sich erstmals die Musikschule mit mehreren Auftritten bei dem an allen Adventswochenenden stattfindenden Programm ein. Mehrere Kinderchöre treten auf. Den Auftakt aber zu diesen besonderen Adventswochen, in einer Zeit, in der im Osten Europas Bomben fallen und Menschen sterben, setzen die Ukrainer.

Daria Khramtsova spielt unter anderem Laute. Die Musikerin brachte schon bald, nachdem sie in Unterschleißheim angekommen war, die Verzweifelten auf andere Gedanken. "Es hilft, den Krieg für ein oder zwei Stunden zu vergessen", sagt sie. Sie gab ein Konzert im Hotel, bei dem sie eigene Lieder spielte. Es sollte auch ein Dankeschön sein an die Mitarbeiter in dem Haus, das sie so bereitwillig aufgenommen hatte. Das Instrument für ihren Auftritt hatte sie sich geliehen. Bei einem zweiten Konzert wollte sie mehr Leute einbinden, und so entstand der Chor. Khramtsova studierte ohne Noten ukrainische Lieder mit den Sängerinnen ein.

Vorausgeschaut: Spontan öffnete das Infinity-Hotel seine Pforten. Viele Geflüchtete, vor allem Frauen und Kinder, fanden eine Zuflucht. Ein Tagungsraum wurde zum Spielzimmer.

Spontan öffnete das Infinity-Hotel seine Pforten. Viele Geflüchtete, vor allem Frauen und Kinder, fanden eine Zuflucht. Ein Tagungsraum wurde zum Spielzimmer.

(Foto: Robert Haas)

Die 27-Jährige studierte Laute in Alessandria in Italien. Als sie ihren Eltern in der Heimat einen Besuch abstattete, infizierte sie sich mit Corona und konnte nicht mehr nach Italien zurück. Sie leitete dann zwei kleine Musikschulen mit dem Namen "Kolibri" in Kiew und Charkiw, bis der Krieg kam und sie mit ihrer Familie plötzlich im Keller ihres Wohnhauses im Zentrum der Stadt nur 300 Meter vom Rathaus entfernt Schutz suchen musste. "Wir verbrachten zehn Tage in Charkiw im Versteck", erzählt Khramtsova. In kurzen Abständen seien in der Nähe Bomben eingeschlagen. Schließlich sei sie mit ihrer Mutter und Tante geflohen. Am 11. März strandeten sie in Unterschleißheim. Es sei ein großes "Durchatmen" gewesen, endlich Ruhe, sagt sie, "keine Bomben". Später sei ihr Vater nachgekommen. Sie hat die Wochen im Hotel als "entspannte Zeit" in Erinnerung.

"Der erste Kontakt war so beeindruckend", schwärmt Musikschulleiterin Victoria Scherer

Die Gemeinschaft löste sich Anfang Mai auf. Der durch Corona zunächst eingeschränkte Hotelbetrieb ging wieder los und die Kriegsflüchtlinge bezogen andere Unterkünfte. Manche gingen in andere Städte. Doch viele blieben auch in Unterschleißheim. Und der Ukrainische Folklorechor blieb bestehen, auch weil sich im Infinity zwei Frauen begegnet waren, die sich auf Anhieb gut verstanden. Victoria Scherer leitet seit zwei Jahren die Unterschleißheimer Musikschule und bringt dort mit vielen neuen Ideen Schwung hinein. Sie erinnert sich, "der erste Kontakt war so beeindruckend", blickt Scherer zurück. Der Chor sei so "wundervoll" und dessen Leiterin "voller positiver Energie". Der Wunsch sei entstanden, den Chor an die Musikschule zu holen. Diesmal konnte Khramtsova mit Noten arbeiten und auch anspruchsvolle Lieder einstudieren.

Vorausgeschaut: Der Ukrainische Folklorechor mit Daria Khramtsova bei einem Auftritt.

Der Ukrainische Folklorechor mit Daria Khramtsova bei einem Auftritt.

(Foto: privat)

Auf die Frage, was auf dem Christkindlmarkt zu hören sein wird, beginnt Khramtsova am Telefon zu summen. Sie imitiert die Melodie des bekannten Lieds Schtschedryk des ukrainischen Komponisten Mykola Leontowytsch (1877-1921), das in der Ukraine ursprünglich zum Neujahrsfest im Januar gesungen wurde, um den Menschen Glück, Wohlergehen und Wohlstand zu wünschen. Es gibt auch eine Weihnachtsversion und weltweit ist die Melodie als Weihnachtslied "Carol of Bells" bekannt. In der englischen Version von Schtschedryk heißt es übersetzt: "Horch, wie die Glocken klingen, süße silberne Glocken. Alle scheinen zu sagen. Wirf die Sorgen weg. Weihnachten ist da." Der Folklorechor singt freilich in ukrainischer Sprache.

Der Krieg in der Ukraine dimmt die Stimmung im Advent. Der Krieg ist hier vor allem wegen der knappen Energie zu spüren. An leuchtenden Sternen und blinkenden Lichterketten wird gespart. Unterschleißheim beschränkt den Lichterglanz weitgehend auf das Treiben auf dem Rathausplatz, wo sich die Menschen auf ein Weihnachtsfest einstimmen, bei dem die christliche Botschaft von der Liebe, der Hoffnung und des Frieden besondere Bedeutung erlangt. Daria Khramtsova hat vorerst in Unterschleißheim Fuß gefasst. Sie leitet den Chor an der Musikschule, unterrichtet Gitarre und studiert an der Hochschule für Musik in München. Sie hofft auf eine Studentenwohnung. "Wir wissen nicht", sagt sie, "wie lange wir hierbleiben werden."

Die Musikschule Unterschleißheim freut sich, wenn neue Sängerinnen oder Sänger zu dem Ukrainischen Folklorechor dazustoßen. Dies ist jederzeit möglich. Interessenten melden sich unter musikschule@ush.bayern.de.

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