Ilea Habib steht mit zwei großen Plastiktaschen vor dem Gemüsestand des Haarer Tisches. Brot und Joghurt hat sie schon eingepackt. "Zwei Zwiebeln bitte", sagt die Frau, die ihren wahren Namen aus Scham nicht in der Zeitung lesen möchte, mit leiser Stimme. Sie steht leicht gebückt, ein blaues Kopftuch säumt ihr rundes Gesicht. An ihrem Jackensaum steckt ein Klämmerchen mit einer Fünf: Für fünf Familienmitglieder holt sie Lebensmittel. Es sind die Lebensmittel, die andere nicht mehr kaufen wollen.
Der Haarer Tisch gibt Essbares, das Supermärkte und Bäckerein wegen des Verfallsdatums nicht mehr verkaufen können, an finanziell schlecht gestellte Menschen weiter. Im Landkreis München gibt es mehr als 15 solcher Ausgabestellen. Bayerns Ernährungsministerin Michaela Kaniber (CSU) findet diesen "Beitrag zur Rettung von Lebensmitteln" löblich. Deshalb hat sie einen Wettbewerb ins Leben gerufen, bei dem fünf der mehr als 170 bayerischen Tische und Tafeln ein Preisgeld von jeweils 5000 Euro gewinnen können.
Traudl Vater ist seit 14 Jahren ehrenamtliche Helferin des Haarer Tisches. Die ehemalige Sozialarbeiterin steht jeden Dienstagabend und Freitagmorgen bei den Menschen in der Warteschlange und redet mit ihnen. Für die Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit vieler Menschen gebe es keine Worte, sagt sie. "Viele Menschen können am Monatsende noch nicht einmal den einen Euro Eintritt bezahlen, den der Haarer Tisch verlangt", sagt sie. Spricht man Vater auf Kanibers Wettbewerb an, beginnt sie zu beben. "Ich bin stinkesauer", bricht es aus ihr heraus. "Es ist absolut zynisch, die Menschen, die gezwungen sind, hierher zu kommen, als Alibi zur Lebensmittelrettung zu nehmen", empört sich die 78-Jährige und wird dabei so laut, dass es kurz still wird im Raum.
Ilea Habib kam vor drei Jahren zum ersten Mal zum Haarer Tisch. "Ich habe mich sehr geschämt", erzählt sie. "Aber die Mitarbeiter geben uns das Gefühl, dass wir hier eine Familie sind." Habib floh vor 20 Jahren von Algerien nach Deutschland. Ihr Mann arbeitete zunächst als Informatiker, doch als er vor drei Jahren krank wurde, verlor er seinen Job. Daraufhin machte seine Frau eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Seit vergangenem Jahr sucht sie vergeblich nach einer Stelle. Von Haar wegziehen möchte sie nicht, der Kinder wegen. Ihre älteste Tochter macht nächstes Jahr Abitur und will Medizin studieren.
Auf der Homepage gemeinsamlebensmittelretten.bayern läuft ein Countdown, der die Stunden, Minuten und Sekunden bis zum Anmeldeschluss am 31. Juli zählt. Bisher haben sich bayernweit fünf Organisationen beworben. Einige Tische und Tafeln im Landkreis München haben noch nichts von dem Wettbewerb mitbekommen. Anders Peter Möws, Vorsitzender der Tafel in Kirchheim. "Ich finde das albern, so einen Witzwettbewerb zu veranstalten", empört er sich. "Wir tun keinen Federstrich, um uns an dem Wettbewerb zu beteiligen!" Er ärgere sich vor allem über die Kriterien, anhand derer die Wettbewerbsjury die Sieger ernennen möchte.
Zu diesen gehören die Anzahl ehrenamtlicher Mitarbeiter, die Mengen an geretteten Lebensmitteln sowie Kreativität und Vorbildwirkung. Möws sagt: "Ich stehe nicht mit der Waage da und sage: Heute haben wir so und so viele Kilogramm Lebensmittel gerettet." Auch Vater ärgert sich über die Kriterien: "Wir sind auf das angewiesen, was uns die Supermärkte geben. Ob das kreativ ist? Das ist nicht wichtig!" Dass es bei dem Wettbewerb vorrangig um die "Rettung von Lebensmitteln" und weniger um "die Menschen" gehe, stört Möws weniger als Vater.
Die Deutschen werfen pro Jahr zehn Millionen Tonnen verwertbarer Lebensmittel weg, hat die Umweltorganisation WWF errechnet. Bayerns Tafeln retten jährlich 33 000 Tonnen Lebensmittel vor der Vernichtung. Der Wettbewerb soll laut Ministerin Kaniber dazu beitragen, "die Wertschätzung der Menschen für Lebensmittel weiter zu steigern". Bereits 2016 habe das Bündnis "Wir retten Lebensmittel!" die Aktion gemeinschaftlich beschlossen. Dem Bündnis gehören auch der Landesverband Tafel Bayern und die Münchner Tafel an. "Entscheidend ist nicht ein Kriterium, wie die Menge an geretteten Lebensmitteln, sondern das Gesamtbild", lässt Kaniber auf SZ-Anfrage wissen. Grundgedanke sei "kein Wettbewerb zwischen den Tafeln, sondern ein Wettbewerb der Ideen". Das Motto laute "Lebensmittel retten. Menschen helfen". Das eine, so die Ministerin, funktioniere nicht ohne das andere.
Widerspruch kommt von der Caritas: "Diese Art Aufmerksamkeit zu erregen, wird dem humanitären Ansatz der Tafeln und Tische nicht gerecht", entgegnet Gabriele Stark-Angermeier. Der Wettbewerb schaffe Konkurrenz zwischen den Ausgabestellen und vernachlässige die Probleme der Klienten: geringes Einkommen, teurer Wohnraum und steigende Energiekosten. Stark-Angermeier, Vorstandsmitglied im Verband der Erzdiözese München und Freising, kündigt an, die Caritas - Träger von sieben Ausgabestellen im Landkreis München - werde sich daher nicht am Wettbewerb beteiligen. Die Zahl der Bedürftigen ist nach Angaben der Tafeln und Tische im Landkreis in den vergangenen Jahren stabil geblieben. Laut Claudia Mammach, der Leiterin der Sozialen Dienste der Caritas, könnten alle Bezieher "in ausreichender Form" versorgt werden. Die Supermärkte lieferten ausreichende Mengen an Lebensmitteln. Engpässe gebe es meist nur bei lang haltbaren Nahrungsmitteln wie Nudeln, Reis und Öl. Oft kaufen die Organisationen solche Produkte von Spendengeldern. Die meisten Tische und Tafeln im Landkreis betonen, wie bedauerlich es sei, dass es sie überhaupt geben müsse. "Eine Schande, dass so etwas in einem der reichsten Länder notwendig ist", so Vater.
Habib ist inzwischen am letzten Stand der Haarer Essensausgabe angelangt. Ihre Taschen sind gefüllt mit Obst und Gemüse, das ihr die ehrenamtlichen Helferinnen in die Hände gedrückt haben. Am letzten Tisch gibt es besondere Waren, die nur selten bei der Essensausgabe landen. Eine Helferin reicht Habib fünf Schokoladenhasen, die von Ostern übrig sind, eine andere drückt ihr einen kleinblättrigen Basilikumstock in die Hand. "Kann ich auch den noch haben?", fragt Habib vorsichtig und deutet auf einen Stock mit größeren Blättern. "Klar", erwidert die Helferin.
Fragt man Habib, was sie sich kaufen würde, wenn sie mehr Geld hätte, überlegt sie kurz. "Bio, ich würde Bio-Essen kaufen", sagt sie. Dann huscht ein trauriges Lächeln über ihr Gesicht. Sie hebt den großblättrigen Basilikumstrauch hoch. Darauf das Biosiegel eines Discounters.