SZ-Adventskalender:Wunden, die nicht heilen

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Vor mehr als 30 Jahren verlor Katharina M. ihren Mann und ein Kind bei einem Flugzeugunglück. Seither ist nichts mehr, wie es war

Von Claudia Wessel, Neubiberg

Die Schreie eines 13-Jährigen: "Sie haben doch nichts Böses getan! Es gibt keinen Gott! Wir sind keine Familie mehr!" Mehr als 30 Jahre ist das her, doch wenn Katharina M. (Name geändert), eine 74-Jährige mit blonden, mit einem Haarband zurückgesteckten Haaren, davon spricht, werden ihre Augäpfel rot und feucht, von einer Sekunde auf die andere. Doch sie unterbindet es sofort wieder, unterdrückt die aufkommenden Gefühle. Der Mann vom Fliegerclub Neubiberg (der Flugplatz dort wurde 1997 geschlossen) hatte an jenem heißen Sommertag vor mehr als drei Jahrzehnten an der Tür des großen Einfamilienhauses der wohlhabenden Familie im Landkreis München geklingelt. Er hatte der Mutter und dem daheim gebliebenen Kind mitgeteilt, dass der Vater und das jüngere Kind, das mit ihm im Privatflugzeug saß, abgestürzt waren.

Tot, das Wort sagte keiner in dem Moment. "Man hat ja so viel Hoffnung", sagt die Witwe heute. Erst am nächsten Tag fiel das Wort, es sei nun sicher, hieß es. Die Hausfrau, die damals Anfang 40 war, konnte es nicht glauben. "Ich habe tagelang geglaubt, sie kommen gleich wieder, gleich geht die Tür auf und sie stehen wieder vor mir." Sie kamen nicht, und auch ihren zweiten Sohn verlor die Mutter quasi an diesem Tag auf viele Jahrzehnte. Die Trauer ist ein unberechenbares Wesen, sie trifft jeden anders. Der 13-Jährige wollte nicht mehr in dem Haus leben, in das der Vater und das Geschwisterkind nicht zurückkehren würden. Er zog zu Oma und Opa.

Die Mutter hatte mit vielem anderen zu kämpfen. Mit der Boulevardpresse, deren Fotografen am Gartenzaun lauerten. "Es war so schrecklich, es war so schrecklich", sagt die Frau und stützt verzweifelt den Kopf in die Hände, weil die Zeit vor 30 Jahren wieder aufersteht. Der Mann war eine bekannte Persönlichkeit, ein Unternehmer, ein Buchautor. Es gab Erspartes, davon konnte sie ein Jahr lang leben. Es gab eine Lebensversicherung, doch mit dieser ein Problem. Der Mann hatte vergessen zu unterschreiben. Er hatte einen Termin bei der Versicherung, um dies nachzuholen, er wäre zwei Wochen nach seinem Tod gewesen. Deshalb wurde die Lebensversicherung nicht ausgezahlt.

Mutter und Vater hatten sich im Studium kennengelernt, auch die Mutter hatte einen technischen Abschluss. Doch 13 Jahre nach dem letzten Job hatte sie den Anschluss verpasst, sie konnte nichts mehr in ihrem Beruf finden.

Das Haus, das die Familie gemietet hatte, konnte sich die Mutter nicht mehr leisten. Sie zog in eine kleine Wohnung und suchte sich Aushilfsarbeiten in Büros, ihre Eltern versorgten das Kind. Die Mutter wechselte öfter den Job, landete aber irgendwann in einer Dauerstellung. Heute ist sie 74, und die Rente, die sie bekommt, ist sehr gering. "Ich rate allen Frauen, weiter zu arbeiten, auch wenn sie Kinder bekommen", sagt sie.

Von der sehr kleinen Rente muss sie seit vielen Jahren auch das traumatisierte Kind von einst mit ernähren. Der Sohn hat sich niemals von dem Schock des damaligen Tages erholt. Als er erwachsen geworden war, trat er einer Sekte bei, verlor dort das Geld, das der Vater einst für seine Ausbildung zurückgelegt hatte. Jahrelang war er völlig aus dem Leben der Mutter verschwunden, sie wusste nicht, wo er war, Bekannte sagten ihr manchmal: Ich habe deinen Sohn am Hauptbahnhof gesehen.

Als die Oma des jungen Mannes vor vielen Jahren krank wurde, kam er zurück, unverhofft. Die Oma starb, der Sohn, heute fast 50 Jahre alt, blieb in der Wohnung der Mutter. Er arbeitet nicht, er hat noch immer psychische Probleme, isst den Kühlschrank leer und trägt nichts zum Lebensunterhalt bei. Die Mutter schränkt sich ein, lässt ihn bei sich wohnen, obwohl sie darunter leidet. "Du weißt doch, was für ein Schicksal wir haben", sagt er, wenn die Mutter das Thema Ausziehen anspricht. "Das ist Erpressung", sagt sie dann. Aber die Kraft, etwas dagegen zu tun, hat sie bisher nicht. Um die Situation zu bewältigen, ist sie in einer Selbsthilfegruppe.

Zu zweit leben Mutter und Sohn weiter mehr schlecht als recht von ihrer Rente, und von ihrer Nebentätigkeit als Haushaltshilfe. Die Miete wurde kürzlich um 100 Euro erhöht. "Ich bräuchte dringend einen Wintermantel." Und der Sohn Schuhe. Ein Kind, das am Todestag seines Vaters aufgehört hat, erwachsen zu werden.

© SZ vom 14.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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