SZ-Adventskalender:Mit anderen Augen

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Das Leben von Anna B. und ihren beiden Söhnen ist voller Schwierigkeiten, denn alle drei sind stark sehbehindert. Finanzielle Unterstützung kann helfen

Claudia Wessel

"Siehst du das nicht?" - Anna B. hasst nichts mehr als diese Frage, die ihr erstaunlicherweise immer wieder gestellt wird. Auch von Freunden und Bekannten, sogar von ihrem Lebensgefährten. Wenn die beiden beispielsweise in der Nachbarschaft unterwegs sind und einen Bekannten treffen - "Du, die hat dich gerade gegrüßt, hast du das nicht gesehen?" Die 48-Jährige zuckt ratlos mit den Schultern, als sie im Café am Hauptbahnhof davon erzählt, von der Gedankenlosigkeit der Anderen.

Es ist eben anstrengend mit den Sehenden. Weshalb sie sehr froh ist, dass ihre beiden Kinder die Blinden- und Sehbehindertenschule in Unterschleißheim besuchen können. Sie selbst hatte sich seinerzeit für eine "normale" Schulen entschieden. Die Energie, die das kostete, hätte sie sinnvoller einsetzen können, meint sie heute.

Warum sie schon als Baby am Grauen Star und an Nystagmus - unkontrollierbaren, rhythmischen Bewegungen des Auges - erkrankte, konnte kein Arzt erklären. Eine Vermutung war, dass sie eine Augeninfektion gleich nach der Geburt hatte: "Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass auch meine Kinder diese Krankheit bekommen könnten."

Sicherheitshalber ließ sie ihren Sohn Noah (alle Namen geändert) gleich nach der Geburt untersuchen - er hatte das Leiden geerbt. Dennoch galt dieses Weitergeben noch immer nicht als unabwendbar. Fünf Jahre später wurde dann Simon geboren; auch ihn hat es getroffen. Noah leidet zudem an einer "Mundmuskelschwäche" und hat daher Probleme mit der Aussprache.

Operationen haben bei allen dreien den "Schleier, der wie ein undurchschaubarer Nebel ist", so Anna, teilweise gelöst. Anna und Noah haben etwa 25 Prozent Sehkraft und Simon, der schon im Alter von sechs Wochen operiert wurde, etwa 35 Prozent. Während Anna und Noah nicht ohne Lesegerät lesen können, schafft Simon das. Zwar wäre er damals an der Operation fast gestorben, dennoch war es gut, dass sie so früh durchgeführt wurde.

Die Kinder, heute 15 und zehn Jahre alt, hätten ein ganz anderes Selbstbewusstsein als sie selbst, sagt Anna: "Die stellen sich schon mal hin und sagen: Hey, ich bin aber sehbehindert, ich seh das nicht." Trotzdem: Soziale Kontakte außerhalb der Blindenschule haben sie nicht. Sie besuchen das Tagesheim, werden jeden Morgen auf dem Land abgeholt und abends wieder heimgefahren. Eine Zeitlang war Noah in einer Ministrantengruppe: "Da hat er dann gemerkt, wie anders er ist."

Aber ist es denn nicht besser, man setzt sich der Welt der Sehenden aus? Muss man dort nicht überleben können, wenn man später im Berufsleben steht? Anna B., die sich in der Welt der Sehenden durchgeschlagen hat, seufzt: "Es ist einfach sehr anstrengend." Und vieles, was andere machen, kann sie nicht - etwa Sport treiben. So geht Anna viel spazieren und beschränkt sich auf wenige Freunde.

Auch dieses Gespräch, für das sie mit dem Zug angereist ist, ganz alleine, strengt sie an: "Ich muss die Hintergrundgeräusche ausblenden, mich auf den Inhalt konzentrieren und schauen: Sind Sie überhaupt noch da oder schon vor einer halben Stunde gegangen?" Und der Besuch der Toilette wäre alleine schwierig geworden. Denn: Um die Tür zu öffnen, muss man einen Code eingeben, der auf dem Kassenbon steht: "Wie sollte ich das alleine schaffen?"

Sogar das Zusammenleben mit dem Vater der Kinder war zu schwer. "Er hat sich für uns geschämt", sagt Anna. Deshalb hat er den Kindern oft die Armbinden nicht angezogen - das gelbe Band mit den drei schwarzen Punkten. Und er hat sie überfordert, um sie "normaler" zu machen. Ist mit ihnen in der Stadt Rad gefahren und erst in der Dunkelheit zurückgekehrt, was Anna für wirklich gefährlich hielt. Auch seine mangelnde Ordnungsliebe machte den drei Sehbehinderten große Probleme. "Wir brauchen eine Struktur", sagt Anna.

Das Chaos, mit dem der Vater sie konfrontierte, die mangelnde Einfühlsamkeit machte Anna so fertig, dass sie schließlich nur noch 47 Kilo wog. Doch sich zu trennen, wagte sie allein aus finanziellen Gründen nicht. Denn sie selbst traute sich nicht mehr zu, berufstätig zu werden, da ihre Augen schlechter geworden waren: "Die Pupille verklebt mehr und mehr mit dem Augapfel." Als Sozialpflegeassistentin kann sie daher nicht mehr einsteigen.

Schließlich war die Trennung doch unumgänglich. Anna muss heute von Erwerbslosenrente leben, vom Vater ihrer Kinder kommt kein Unterhalt, er verdient als Selbstständiger zu wenig. Das Schulgeld für die Kinder zahlt der Bezirk Oberbayern, doch der restliche Lebensunterhalt ist knapp. Auch der neue Lebensgefährte hat finanzielle Sorgen, er zahlt für zwei Kinder Unterhalt und hat einen Selbstbehalt von nur 950 Euro.

Da ist es schwer, dringend notwendige Hilfsmittel zu bezahlen. Den eigentlich bräuchten Anna und ihre Söhne einen größeren Bildschirm für den Computer und ein Lesegerät. Unter letzterem könnte man auch die Legosteine beim Spielen besser sehen oder Nadel und Faden beim Nähen. Ein weiterer Wunsch wäre, den zusätzlichen Raum in der Wohnung, den bisher noch der Vermieter nutzt, dazu zu mieten.

Die Zeit nach der Blindenschule? Daran möchte Anna noch gar nicht denken. Es gibt viele Ausbildungszentren für Blinde in anderen Städten. "Man muss früher Abschied nehmen von den Kindern", sagt sie tapfer. Dann müssen die jungen Männer in der Welt der Sehenden überleben.

© SZ vom 04.12.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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