SZ-Adventskalender :Auf dem Weg in die Normalität

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Psychologin Nina Hartmann hilft Flüchtlingen in der Oberhachinger Unterkunft in allen Lebenslagen. (Foto: Claus Schunk)

Die Integrationsbeauftragte Nina Hartmann bietet im Caritas-Büro in Oberhaching Geflüchteten, die in der neuen Heimat Halt und Orientierung suchen, eine Anlaufstelle. Doch diese ist nur noch ein Jahr gesichert.

Von Christina Hertel, Oberhaching

Wenn Nina Hartmann morgens um 9 Uhr ihr Büro aufschließt und sich an ihren Schreibtisch setzt, weiß sie meist nicht, wer ihr dort die nächsten Stunden gegenüber sitzen wird: Menschen, die weinen. Menschen, die Ärger haben - mit den Behörden, dem Partner, dem Arbeitgeber, dem Nachbarn, der Schule. Menschen, die Briefe nicht verstehen. Menschen, die sich einsam fühlen. Menschen, die aus Afghanistan, Syrien, Senegal kommen, deren Geschichten alle anders gehen und doch eines gemeinsam haben: Sie alle sind vor Krieg, Folter, Armut geflohen und alle leben nun in Oberhaching. Psychologin Hartmann arbeitet dort gemeinsam mit einem Kollegen für die Caritas als Integrationsbeauftragte.

Als Hartmann 2015 anfing, besuchte sie die Geflüchteten in Traglufthallen, verteilte Essen, Kleidung, Hygieneartikel, erklärte ihnen, wo in Deutschland sie sich gerade befinden und wie es nun mit ihnen weitergehen soll. Heute leben viele von damals immer noch in Oberhaching - sie schlafen nicht mehr auf Feldbetten, sondern leben in einer von fünf Unterkünften in der Gemeinde.

Die meisten der rund 180 Geflüchteten, sagt Hartmann, haben inzwischen einen Job oder machen eine Ausbildung. Ihre eigene Arbeit hat sich dadurch verändert: Statt Menschen zu helfen, den Tag mit dem Nötigsten zu überbrücken, gehe es nun darum, wie Deutschland ihr Zuhause werden könnte, wie sie hier leben, arbeiten, wohnen, Freunde finden und eine Familie gründen könnten. "Die richtige Integrationsarbeit beginnt eigentlich erst jetzt", sagt Hartmann.

Jetzt wieder als Dossier

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(Foto: SZ)

Mehr als 150 Millionen Euro hat der Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung in 70 Jahren eingenommen. Ein digitales, nun wieder auf den neuesten Stand gebrachtes Dossier blickt zurück. Es erklärt, wie das Hilfswerk funktioniert und bündelt berührende Geschichten aus München und dem Umland. Verfügbar im Digitalkiosk oder unter: sz.de/sz-adventskalender

Umso problematischer sei: Die Finanzierung der Beratung ist laut Caritas nur noch bis Ende 2020 gesichert, wie es danach weitergeht, ist unklar. Getragen wird diese zum einen von der Regierung von Mittelfranken und zum anderen durch das Münchner Landratsamt. 2015 sei zwar "vorbei", schreibt Antje Spilsbury, die stellvertretende Kreisgeschäftsführerin der Caritas, doch es gebe immer noch einen hohen Zuzug in den Landkreis - besonders aus dem Balkan. Spilsbury sieht die Aufgabe der Beratungsstelle auch darin, zu verhindern, dass sich Parallelgesellschaften bilden. Sie arbeite deshalb eng mit Helferkreisen und Ehrenamtlichen in den Gemeinden zusammen.

Viermal pro Woche eine offene Sprechstunde

Insgesamt berät die Caritas zirka 2000 Geflüchtete in 13 Kommunen des Landkreises. Die Büros der Integrationsberater liegen in den Unterkünften, damit die Hürde möglichst gering ist, zu einer Sprechstunde zu gehen. "Vor Behörden haben viele Angst", sagt Hartmann. Zu den Integrationsberatern sei das Vertrauen im Laufe der Jahre jedoch gewachsen. Viermal die Woche bieten Hartmann und ihr Kollege eine offene Sprechstunde an, zu der jeder ohne Anmeldung kommen darf. Auch feste Termine für Einzelgespräche können Geflüchtete bei ihnen vereinbaren. Zur Zeit kommen viele zu ihr, weil ihr Asylverfahren negativ ausging und die Ausländerbehörde ihnen deshalb die Arbeitserlaubnis entzog. Alleine in Oberhaching betreffe das etwa 20 Menschen.

Der Verlust einer Aufgabe und einer Struktur, gleichzeitig die Angst, dass der Tag der Abschiebung immer näher rückt, stürze viele ihrer Klienten in eine Krise, sagt Hartmann. Sie telefoniert dann mit Behörden und schreibt Briefe. Rückgängig machen kann sie den Entzug der Arbeitserlaubnis oftmals nicht, doch den Menschen helfe es, dass ihnen jemand zuhöre und sich um ihre Sorgen kümmere. Denn mit der wachsenden Unsicherheit nehme bei vielen auch die Gefahr zu, an einer Depression zu erkranken. Ein großer Teil der Geflüchteten sei in Therapie. Die Kontakte zu Psychologen und Ärzten vermittelte häufig Hartmann oder ihr Kollege.

Echte Freunde zu finden, ist eine Herausforderung

Doch sie kümmert sich auch um Probleme, die bei Menschen, egal welchen Pass sie in der Tasche tragen, vorkommen können: Erst vor kurzem schlichtete sie bei einem Ehestreit. Die Frau fühlte sich bei der Kindererziehung alleine gelassen. Oft besuchen Klienten ihre Sprechstunde, weil sie sonst kaum jemanden haben, der ihnen zuhört. Viele kommen alleine in Deutschland an und echte Freunde zu finden, sei für die meisten eine Herausforderung.

Doch damit Oberhaching tatsächlich eine neue Heimat werden kann, brauche es Freunde, ebenso wie schöne Erlebnisse, die Erinnerungen schaffen, von denen sie eine Weile zehren können. Hartmann würde deshalb gerne mit den geflüchteten Kindern aus Oberhaching im Winter einen Ausflug zum Tegernsee machen, dort rodeln gehen und gemeinsam etwas essen. "Die Eltern können sich so etwas nicht leisten", sagt Hartmann. Denn auch wenn die Familien schon lange nicht mehr in den Traglufthallen leben, wichtiger als Schlittenfahren zu gehen, sei für sie immer noch, an warme Handschuhe zu kommen.

Der Tag am Tegernsee solle deshalb einer werden, bei dem die Kinder nicht daran denken müssen, dass ihr Leben bis jetzt so anders verlief, als das ihrer Klassenkameraden.

© SZ vom 14.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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