Sendlinger Tor: Kameras gegen Junkies:"Geh' doch an die Isar!"

Lesezeit: 5 min

Seit die Polizei im Juli Überwachungskameras am Sendlinger Tor installiert hat, zerstreut sich die Drogenszene. Die Passanten freuen sich - die Streetworker weniger.

Monika Maier-Albang

Wenn vor Sabine Reicherts Getränkeladen ein großer Hund liegt, kann man davon ausgehen, dass drinnen gerade einer der Junkies vom Sendlinger Tor einkauft. Reichert bezeichnet diesen Teil ihrer Kundschaft als "meine Parkbesucher". Natürlich kommen sie zu ihr, weil es Alkohol gibt. Aber Sabine Reichert ist mehr als eine Bier-Quelle.

Die Überwachungskameras am Sendlinger Tor sollen den Passanten ein Gefühl der Sicherheit geben. (Foto: Stephan Rumpf)

Sie ist Seelsorgerin und strenge Ersatzmutter zugleich, sie hört zu, wenn es den Parkbesuchern dreckig geht. Sie schimpft, wenn sie sich selbst zu sehr bemitleiden: "Sucht euch Arbeit!" Und sie hat ihnen Auflagen gemacht für den Einkauf: Die Hunde müssen draußen bleiben, weil sie selbst einen großen im Laden hat.

Sie gibt pro Nase nie mehr als drei Bier auf einmal aus, und das höchstens zweimal am Tag. Und Härteres schon gar nicht. Wenn einer torkelt, schickt sie ihn weg. Reichert könnte locker mehr verdienen an diesen Kunden, doch dazu mag die Frau, die ihre Wochenenden als Sanitäterin verbringt, die Menschen zu sehr. Auch die mit einem gebrochenen Lebensweg.

Seit die Polizei Anfang Juli drei Videokameras am Sendlinger Tor installiert hat, hat Reichert einige Kunden weniger. Die Kameras sollen "Straftaten verhindern", "zur Abschreckung dienen", so begründet die Polizei die "Präventivmaßnahme". Es ist nun mal so, dass andere Menschen sich fürchten, wenn sie an einer Gruppe grölender, tätowierter Menschen vorübergehen müssen.

Manche Junkies haben Hunde dabei, die sich gegenseitig anknurren. Wie auch deren Besitzer sich schnell in den Haaren und dann wieder in den Armen liegen. Solche Streitereien würden zwar immer nur untereinander ausgetragen, sagen die Streetworker.

Der Sendlinger-Tor-Platz verändert sich

Aber wer setzt sich schon gern in seiner Mittagspause oder als MVV-Fahrgast auf eine Bank, wenn er befürchten muss, angeschnorrt und dann blöd angemacht zu werden, wenn er nichts gibt? Oder wenn er Sorge um die Handtasche oder das Handy haben muss? Auch die "Beschaffungskriminalität" sei zuletzt ein Problem gewesen, erklärt die Polizei die verschärfte Überwachung.

Seit die Kameras da sind, sagt Robert Röske, der zuständige Zivilbeamte für das Sendlinger Tor, setzten sich auch wieder Mütter mit Kindern ans Rondell. "Man merkt, dass der Platz wieder von allen Bevölkerungsschichten frequentiert wird."

Die Polizei hat noch keine Zahlen, aber es gibt erste gefühlte Veränderungen. Röske hat seine Wahrnehmung, Sabine Reichert die ihre. Ihre Kunden erzählen, dass sie sich am Sendlinger Tor zunehmend unwohl fühlen. An den Odeonsplatz ziehen sie um, ans Isartor, oder zur "Freiheit", wie sie die Münchner Freiheit nennen. Doch die älteren Junkies dort heißen die Neuen nicht unbedingt willkommen.

Die Kameras allein stören die "Parkbesucher" weniger. Es sind vor allem die vermehrten Kontrollen, die die Videoüberwachung nach sich zieht: Die Beamten sehen, wer am Platz zusammensteht - und wenn sich Streit anbahnt oder Flaschen fliegen, werden Röske und seine Kollegen informiert. Sie lassen sich die Ausweise zeigen und haben verschiedene Möglichkeiten, mit den Junkies zu verfahren: vom Platzverweis über die "Ingewahrsamnahme" bis hin zum "Ortsverbot", das dann das Kreisverwaltungsreferat verhängt.

Allerdings liegt es im Ermessen jedes einzelnen Beamten, wann etwa ein Verbot fällig ist. Der Platz ist eine öffentliche Fläche, und die Beamten müssen folglich den, wie es im Amtsdeutsch heißt, "Allgemeingebrauch" sicherstellen. Sie sollen gewährleisten, dass die Allgemeinheit den Platz problemlos benutzen kann.

Doch wann stört ein Junkie, wann stört ein Obdachloser die "Allgemeinheit"? Wenn er ein Bier neben sich stehen oder schon drei getrunken hat? Wann fängt eine Zusammenrottung an? Bei drei lauten Leuten mit Hunden oder bei fünf? Vier, fünf solcher Platzverbote sprechen die Beamten in der Regel pro Tag aus.

"Sie behandeln uns wie die Schmeißfliegen", schimpft Sven. Drei dicke Ringe hat er an der Hand, die das Bier hält. Wo er denn hin solle, habe er einen der Beamten, die ihn gefilzt haben, einmal gefragt, erzählt Sven. Die Antwort: "Geh' doch an die Isar!"

So leicht aber ist das nicht. Der Ratsch am Sendlinger Tor sei für viele der einzige Sozialkontakt des Tages, sagen die Streetworker vom städtischen Referat für Umwelt und Gesundheit, die für die Junkies zuständig sind. Von Zweckgemeinschaften sprechen sie: Man gibt dem Kumpel, der pleite ist, ein Bier aus und darf auf Gegenleistung hoffen.

Methadon, "Benzos" und "Fluis"

Viele von denen, die am Sendlinger Tor stehen, werden in der Nähe in einer der Substitutionspraxen behandelt. Die Abhängigen kommen aus dem ganzen Stadtgebiet, aber auch aus angrenzenden Landkreisen, wo es zu wenig Behandlungsplätze gibt. Mehrere Hundert seien es täglich, schätzen die Streetworker, ein Drittel davon Frauen.

Den Sozialarbeitern ist es lieber, wenn ihre Kundschaft an einem Platz versammelt ist. Wenn die Leute vor den Kameras flüchten und durch die Stadt wandern, dauert es Wochen, manchmal Monate, bis die Streetworker sie wiederfinden. Und noch ein Problem haben sie mit den Kameras: Es ist darauf zu sehen, zu wem sie gehen. So weisen sie der Polizei womöglich unbeabsichtigt den Weg.

Die Abhängigen kommen über den Tag verteilt, jeder hat seine feste Ausgabezeit. Gerade die Methadon-Patienten, sagen die Streetworker, würden sich nur eine halbe oder dreiviertel Stunde am Platz aufhalten, bis das Methadon "anflutet". Dann entspannt sich der Körper, der Patient wird ruhiger. Bis diese Wirkung einsetzt, haben manche Angstzustände und scheuen sich, in eine volle U-Bahn einzusteigen.

Natürlich dürften sie neben der Behandlung keinen Alkohol trinken, nicht dealen - und tun es dennoch. Zwar wurden am Sendlinger Tor schon vor der Installation der Kameras keine harten Drogen gehandelt, heißt es bei der Polizei. Dazu waren hier immer schon zu viele Streifen unterwegs. Doch die Abhängigen verhökern untereinander "Benzos" und "Fluis", starke Beruhigungsmittel wie Valium oder Rohypnol, die sie auf Rezept bekommen haben.

Über die Jahre hinweg hatten sich beim Sendlinger Tor eigene Strukturen gebildet. Junkies, die vor den Kameras am Orleansplatz hierhin geflüchtet waren, hatten eigene Stammplätze. Daneben gibt es eine andere Gruppe von Leuten, die bei den Sozialarbeitern des evangelischen Hilfswerks "Wohnungsflüchter" oder "Stammsteher" heißen - für sie ist der Platz oft ihr eigentliches Zuhause.

Man kennt sich vom Sehen, mag sich aber nicht sonderlich. Die Videoüberwachung, sagt Streetworkerin Renata Zadro-Galic, habe den Abstand noch vergrößert. Eine Gruppe mache nun die andere dafür verantwortlich, dass die Kameras aufgehängt worden seien. Es hat bereits eine Wanderbewegung eingesetzt.

Die Junkies gehen hin, wo die Video-Augen sie nicht erreichen: etwa in die kleine Grünanlage an der Herzog-Wilhelm-Straße, oder in den Nußbaumpark ans Schachspiel, wo sich bisher vor allem ältere kroatische Herren zum Bier trafen. Seit 20 Jahren sei das sein Stammplatz, sagt einer, den man Damir nennen soll. Nun habe "die andere Kolonne" diesen Ort besetzt. "Wir haben Angst, dort zu stehen", sagt Damir.

Man kann ihn und andere jetzt im Nußbaumpark am Brunnen mit der Büste Friedrich Bezolds finden. Da sitzen sie, einer hat seine Plastikflasche mit Brunnenwasser gefüllt, hinter dem Brunnen wäscht jemand verstohlen die Haare. Die Polizeipräsenz, sagen sie, sei ihnen ganz recht. Einerseits. Wegen "der anderen Kolonne". Lieber aber wäre ihnen, wenn sich die Kontrollen auf die anderen beschränken würden. Damir hat einen Polizisten gefragt, wo sie hingehen sollen. "Geht's heim", habe er zur Antwort erhalten, "oder auf einen anderen Platz."

"Super", sagt Zadro-Galic. "Dann erreichen wir diese Leute gar nicht mehr." Die Sozialarbeiterin hat sich gerade auf die Steinbank zu Damirs Nachbarn gesetzt, den man als Rainer vorstellen soll. Seine Fingerkuppen sind gelb vom Nikotin. Eine Wohnung habe er, doch er sei die Augustmiete schuldig. Wochenlang hätten ihn übelste Zahnschmerzen geplagt, erzählt Rainer, bis der Zahn schließlich von alleine ausfiel.

"Es sind ja auch Menschen"

Über diese Schmerzen habe er vergessen, den "Weiterbewilligungsantrag" für das Arbeitslosengeld zu stellen. Nun sei er blank, die Bahnhofsmission habe ihm gerade fünf Euro zur Überbrückung gegeben. Zadro-Galic vereinbart einen Termin mit ihm, im Büro der Teestube Komm. Für die Sozialarbeiterin hat sich der Weg in den Park so schon ausgezahlt.

Getränkehändlerin Reichert sagt, sie sei skeptisch, was die Kameras betrifft. "Man verdrängt die Leute doch nur woanders hin. Geholfen wird ihnen damit nicht." Dabei hätte sie genug Anlass, die Junkies zum Teufel zu wünschen. Im Frühjahr hatte ihr jemand den Geldbeutel aus dem Hinterzimmer geklaut. Da hat sie eine Zeitlang allen "Parkbesuchern" Hausverbot erteilt.

Inzwischen dürfen sie wieder kommen. "Es sind ja auch Menschen", sagt Reichert. Vier ihrer Kunden aber kommen nicht mehr. Nicht wegen der Kameras. Sie sind in der Zwischenzeit gestorben.

© SZ vom 23.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: