Krieg in der Ukraine:Freunde in der Not

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Die Pullacher Partnerstadt Baryschiwka in der Ukraine war bereits direkt vom Krieg betroffen, damals wurde auch diese Kirche in einem nahegelegenen Dorf verwüstet. (Foto: privat)

Die Gemeinde Pullach unterstützt ihre beiden Partnerstädte Baryschiwka und Beresan regelmäßig durch Hilfstransporte. Jetzt werden unter anderem wieder Verbandsmaterial und Krücken auf die 2000 Kilometer weite Reise geschickt. Denn die Region östlich von Kiew könnte wieder zum Kampfgebiet werden.

Von Michael Morosow, Pullach

Gute Freunde erkennt man leichter, wenn das Leben schwerer wird, besagt ein Sprichwort. Wer sich von der Richtigkeit dieser Weisheit überzeugen möchte, der sollte an diesem Sonntag um fünf Uhr abends auf dem Baryschiwka-Platz in Pullach stehen. "Innehalten für den Frieden", so lautet der Titel der Treffen, die seit dem brutalen russischen Überfall auf die Ukraine wöchentlich stattfinden. Hier stehen sie Schulter an Schulter - die guten Freunde und jene Menschen, deren Leben gerade wirklich sehr schwer ist, ein Albtraum gar für viele von ihnen.

Teils Hals über Kopf sind sie aus ihrer Heimat geflohen in Sorge um ihr Leben, insbesondere das ihrer Kinder. Circa 170 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine haben inzwischen in der Isartalgemeinde Aufnahme gefunden, in der Mehrheit Familien ohne Familienväter, die ja zur gleichen Zeit ihr Land verteidigen müssen. Das wöchentliche Innehalten für den Frieden sei für die Geflüchteten sehr wichtig, sagen der Vorsitzende des Partnerschaftsvereins, Otto Horak, und seine Stellvertreterin Barbara Kammerer-Fischer. Dort können sie hautnah sowohl die Solidarität der Pullacher Bevölkerung spüren als auch die Verbundenheit mit ihren Landsleuten. Und wenn sie am Ende gemeinsam die ukrainische Hymne singen, dann mag die ein und andere geschundene Seele ein wenig Frieden finden, wenigstens für einen Moment.

Am 27. Februar 2022 zogen in Pullach viele Menschen durch den Ort, um ihre Solidarität mit der angegriffenen Ukraine zu zeigen. Seither finden jeden Sonntag Mahnwachen statt. (Foto: Sebastian Gabriel)

Denn eine lähmende Angst ist allgegenwärtig bei vielen, die Angst vor schlimmen Nachrichten aus ihrer Heimat, insbesondere von der Front. Hundert Söhne der beiden ukrainischen Partnerstädte der Gemeinde Pullach, Baryschiwka und Beresan östlich von Kiew, sind seit Kriegsbeginn gefallen. Das Totengedenken ist so Teil jedes Sonntagstreffens. "Sie helfen sich gegenseitig, erzählen sich, teilen die große Angst und hoffen gemeinsam", hatte Otto Horak bereits im März 2022 im monatlichen Newsletter des Partnerschaftvereins geschrieben. Wenn ihr Handy klingelt und eine ukrainische Telefonnummer auf dem Display steht, zittern einigen die Hände.

Seit dem 26. Oktober 1990 ist die Gemeinde Pullach mit Brief und Siegel Partner der beiden ukrainischen Kommunen. An diesem Tag haben der damalige Bürgermeister Ludwig Weber (CSU) und sein Kollege aus Baryschiwka, Mykola Kowalenko, im Pullacher Rathaus die Partnerschaftsurkunde unterschrieben und sich darin verpflichtet, zu einem gesicherten Frieden beitragen zu wollen. Im Lichte der jüngsten Ereignisse wirkt heute ein Detail dieses Vertragswerks geradezu zynisch; es ist in deutscher und russischer Sprache verfasst - die Ukraine war damals noch Teil der Sowjetunion. Seit dem 24. Februar 2022 ist es Gewissheit, dass die Friedensbemühungen vergebens waren. Aber seit jenem Tag steht die Partnerschaft auf noch stärkeren Beinen.

Von den 125 registrierten Kommunalbeziehungen, die heute zwischen ukrainischen und deutschen Gemeinden bestehen, dürfte Pullach mit seinen ukrainischen Partnern eine der tiefsten pflegen. Stellvertretend wohl für den ganzen Ort wurde 2022 Bürgermeisterin Susanna Tausendfreund (Grüne) von "Engagement global", einem Service der Bundesregierung, zur ehrenamtlichen Botschafterin für kommunale Entwicklungspolitik benannt.

Seit der Krieg tobt, ist aus der einst mit zahlreichen gegenseitigen Besuchen lebendig gehaltenen Partnerschaft mit vielen heiteren Momenten in vieler Hinsicht gezwungenermaßen eine Fernbeziehung geworden, wenn auch eine überaus intensive. Die bereits traditionellen Besuche ukrainischer Kinder im Sommer müssen vorerst ausfallen wie auch der jährliche Lehreraustausch und die beliebten Freundschaftsbesuche von Pullacherinnen und Pullachern in Baryschiwka und Beresan.

Angesichts des geringeren Lebensstandards in der Ukraine leisteten die Pullacher zwar bereits von Anfang an humanitäre Hilfe in vielfältiger Weise. 35 Mal, so glaubt Otto Horak, seien von Pullach aus Hilfstransporte ins 2000 Kilometer entfernte Baryschiwka und Beresan gefahren, beladen mit allerlei Brauchbarem wie Fahrrädern, einem OP-Tisch, medizinischen Geräten für Krankenhäuser oder auch mit Solarkollektoren für ein Alten- und Pflegeheim im Wert von 100 000 Euro. Seit 1991, da er zum ersten Mal einen Transport begleitete, seinerzeit zusammen mit der damaligen Gemeinde- und Kreisrätin und heutigen Bürgermeisterin Susanna Tausendfreund, ist Otto Horak jedes Mal mitgefahren.

Otto Horak kommt als Vorsitzender des Partnervereins derzeit auf eine 40-Stunden-Woche. (Foto: Claus Schunk)

Seit Kriegsbeginn ist sein ehrenamtliches Engagement zu einem Vollzeitjob geworden. Er komme auf eine 40-Stunden-Woche, sagt der Rentner, seine Stellvertreterin Barbara Kammerer-Fischer opfert jedes Wochenende und so gut wie jeden Abend für humanitäre Hilfe. So groß die Spendenbereitschaft der Pullacher Bevölkerung und Firmen, die Großzügigkeit der Gemeinde und das Engagement der Mitglieder des Partnerschaftsvereins, der örtlichen Feuerwehr und des Burschenvereins auch ist, die Not ist größer.

Die Kollektoren sind inzwischen bei einem russischen Bombenangriff auf die Alteneinrichtung zerstört worden. Sie sollen jetzt repariert werden. Bei einem Raketenangriff am 11. März 2022 auf Baryschiwka waren auch rundherum ganze Ortschaften zerstört worden, drei Menschen wurden von russischen Soldaten damals auf der Flucht erschossen. Bereits nächste Woche soll ein weiterer Hilfstransport die Reise nach Baryschiwka antreten, die Ladung lässt auf die Lage in den beiden Partnergemeinden schließen: Monitore, Krücken, Taschen- und Stirnlampen, Knieschützer, Motor-Aggregate, Motorsägen, OP-Lampen, Rollstühle, Verbandsmaterial, Medikamente, medizinische Spezialnadeln und Kleidung.

Der Hilfstransport wird an der ukrainisch-polnischen Grenze von ukrainischen Helfern übernommen. Zwei von der Stadt München für 50 000 Euro erworbene Müllfahrzeuge werden demnächst in die Ukraine gebracht werden. Finanziert werden sie zum Großteil von der Servicestelle Engagement global. Zehn Prozent trägt die Gemeinde wie auch bei anderen großen Hilfsgütern.

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In Pullach selbst sind 170 Geflüchtete aus der Ukraine in privaten Haushalten untergebracht, die ebenfalls Unterstützung brauchen. Darunter die 39-Jährige Vasylyna Trypolska und ihre Tochter Liuba, die bis heute im Haus der Bürgermeisterin wohnen. Zuvor durften das bereits Trypolskas Schwester mit ihrer sechsjährigen Tochter, diese haben inzwischen anderen Wohnraum in Pullach gefunden. Unter anderem auch der frühere SPD-Gemeinderat Arnulf Mallach und Michael Reich von der FDP haben ukrainischen Gästen eine Bleibe gegeben, und Helmut Ptacek (SPD) stellt sein Wohnzimmer für Sprachkurse zur Verfügung. Die humanitäre Hilfe bringt freilich auch die Infrastruktur der Gemeinde an ihre Grenzen.

Kinder und Jugendliche meist ohne deutsche Sprachkenntnis müssen in Kindergärten und Schulen Platz finden, ein bewährtes Instrument dafür ist die Einführung von Brückenklassen gewesen. Deutschkurse für Mütter und für Senioren mussten organisiert werden, was bisher gut gelungen ist, auch weil sich in Pullach weilende ukrainische Lehrkräfte einbringen. Der Isartaler Tisch, der Lebensmittel an Bedürftige verteilt, muss inzwischen mit einer Verdoppelung der Kundschaft zurechtkommen, statt wie bisher 200 jetzt 400 Bedürftige versorgen, auch weil Geflüchtete aus Baierbrunn und München-Solln hinzugekommen sind. Es müsse zugekauft werden, sagt Tausendfreund, die Gemeinde werde ihre Zuschüsse erhöhen müssen.

Der Laster für den jüngsten Hilfstransport sei schnell beladen gewesen, berichtet Barbara Kammerer-Fischer. Eine kurze Nachricht habe gereicht, und kurz darauf seien 20 ukrainische und vier heimische Helferinnen und Helfer im Warenlager eingetroffen. Das Katalogisieren, Registrieren und die genaue Beschreibung der Artikel für die Zollpapiere koste deutlich mehr Zeit. Am meisten nimmt sie aber der ganze behördliche Papierwust in Anspruch, der unter anderem bei Zuschussanträgen entsteht, insbesondere für große Projekte. Aktuell etwa plant der Partnerschaftsverein die Anschaffung einer solargesteuerten Pumpe für die Wasserversorgung in Baryschiwkas. Bei der Suche nach weiterem Wohnraum für ukrainische Flüchtlinge setzen Horak und Kammerer-Fischer auf eine im Mai eintretende Regeländerung, wonach die Ukrainer Anspruch auf Jobcenter-Leistungen haben werden. Immer wieder träfen Anrufe aus der Ukraine ein mit der Bitte: "Darf ich kommen", berichtet Otto Horak.

"Die Minen wurden von den Russen überall verteilt, auf Felder, in Schubläden, selbst auf Toten"

Wo die Hilfsbereitschaft der Pullacher an Grenzen stößt, das ist der psychische Beistand für ihre in Not geratenen Gäste auf Zeit. Durch schlimme Fluchtumstände ohnehin traumatisiert, fürchten viele um ihre in der Heimat verbliebenen Angehören, zumal eine Frühjahrsoffensive der Russen erwartet wird und dabei möglicherweise auch Angriffe auf Kiew von Weißrussland aus gestartet werden. Dadurch könnten Baryschiwka und Beresan wieder zum Kampfgebiet werden. Höchste Lebensgefahr besteht jetzt schon für Menschen dort. "Die Minen wurden von den Russen überall verteilt, auf Felder, in Schubläden, selbst auf Toten", berichtet Kammerer-Fischer.

Einige der in den Kriegswirren umgekommenen Ukrainer hatte man durch deren Besuche in Pullach gut gekannt, so etwa einen Rajonsleiter, der als Truppführer bei der Territorialabwehr gefallen ist. Oder den Mann von Julia, die vor drei Jahren eine Kindergruppe aus der Ukraine in Pullach betreut hatte. "Sie hatte mir damals ihren Mann und ihr kleines Mädlein vorgestellt, jetzt ist ihr Mann tot", sagt Kammerer-Fischer. Erst kürzlich hat Bürgermeisterin Tausendfreund ein Beileidsschreiben nach Baryschiwka geschickt, der Sohn des früheren Bürgermeisters war gefallen. Schlecht schlafen kann seit geraumer Zeit auch eine Frau, die in ihrer Heimatgemeinde Beresan für Schulen und Kitas zuständig ist und schon mehrmals im Rahmen der Partnerschaft in Pullach weilte. In der Ukraine wurde das Höchstalter für eine Ausreisegenehmigung von 18 auf 17 Jahren gesenkt. Ihr Sohn, siebzehneinhalb Jahre alt, steht jetzt an der Front.

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