Krieg in der Ukraine:Reise ins Ungewisse

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Für den Frieden, für Europa: Auch am vergangenen Sonntag sind wieder viele Pullacher auf dem Baryschiwka-Platz zu einer Demonstration zusammengekommen. (Foto: Claus Schunk)

Viele Geflüchtete haben den Landkreis erreicht, viele werden noch erwartet. In Pullach und Oberhaching bemüht man sich, die Menschen willkommen zu heißen und Solidarität zu zeigen.

Von Florian Weber, Pullach/Oberhaching

Jeden Sonntag versammeln sich seit ein paar Wochen Hunderte Pullacher am Baryschiwka-Platz, um ihren mehr als 1500 Kilometer weiter östlich lebenden Freunden ihre Solidarität zu zeigen. Mittlerweile sind auch die dabei, die eine Tausende Kilometer lange Flucht hinter sich haben und in Pullach Schutz gefunden haben. Sie haben Fahnen in ihren Händen, auf denen der Grenzverlauf der Ukraine blau und gelb eingefärbt ist. Vereinzelt fließen Tränen, als Monika Fuchs, Geigenlehrerin der Musikschule Pullach, gemeinsam mit zwei ihrer Schüler das erste Lied spielt. "Verlorene Jahre" beschreibt die Angst von vielen, die vor Tod und Zerstörung aus der Ukraine fliehen mussten.

Wie viele Ukrainer vier Wochen nach dem Beginn des Kriegs im Landkreis München untergekommen sind, weiß niemand genau. In offiziellen Unterkünften leben bisher rund 500 Personen, in privaten Haushalten, von denen das Landratsamt weiß, sind es mehr als 1300. "Es dürften aber noch viel mehr sein", sagt Christine Spiegel, die Sprecherin der Kreisbehörde. "Die private Hilfsbereitschaft ist überwältigend, aber darüber haben wir schlicht keinen Überblick."

Einer, der seit sechs Tagen im Landkreis lebt, ist Vycheslav Prokopenko. Der kahlgeschorene Mann strahlt bei einer Begegnung in Oberhaching Melancholie und Wärme zugleich aus. Er ist einer der wenigen Väter, die ihre Familie bei der Flucht begleiten konnten. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine nicht verlassen. Sie müssen, das schreibt ein Gesetz vor, ihr Land verteidigen. Ausnahmen gibt es nur für Väter von mehr als drei Kindern. Eine solche Ausnahmegenehmigung beantragte Prokopenko vor einigen Wochen. Nun ist er mit seiner Frau und seinen vier Kindern da. Er steht vor dem Gemeindezentrum, wo der Helferkreis eine Zusammenkunft von etwa 80 Geflüchteten mit Helfern organisiert hat. Als ein kleines Mädchen lachend einem Basketball hinterherläuft, strahlt er. Es ist seine Tochter.

Die Kinder spielen Basketball. Die Stimmung ist sonderbar gelöst. Doch in den Menschen sieht es anders aus. (Foto: Claus Schunk)

Allgemein ist die Stimmung dort sonderbar gelöst. Wohl auch, weil unter den Geflüchteten viele Kinder sind. Sie toben, kreischen, lachen, spielen Basketball und Fangen - und scheinen die Erwachsenen mit ihrer kindlichen Sorglosigkeit anzustecken.

Prokopenko und seine Familie kommen aus Charkiw, einer Stadt, die nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt. "Meine Kinder hatten große Angst, als am 24. Februar um 3 Uhr in der Nacht die ersten Bomben fielen und die Sirenen heulten", sagt er. Bis einen Tag vor Beginn der Bombardierung habe niemand geahnt, dass ein Krieg bevorstehen würde. "Das klingt vielleicht naiv", sagt Prokopenko, "aber wir haben nicht damit gerechnet. An Bushaltestellen, mit Freunden, auf der Arbeit - niemand hat über Krieg geredet."

Er hoffte, der Schrecken würde schnell enden

Er betreibt gemeinsam mit seiner Frau ein Textilunternehmen. Er sei kein besonders politischer Mensch, sagt er. Und vielleicht gerade deswegen habe er auch an den Tagen nach den ersten Angriffen noch immer die Hoffnung gehabt, der Schrecken würde schnell wieder enden. "Erst nach sechs Tagen voller Sirenen und Bomben haben wir entschieden zu fliehen." Erst nach Lwiw und als es dort, wo sie 20 Stunden in einem Zug ausharrten, auch nicht mehr sicher war, ging es weiter in die Slowakei. Eine Reise ins Ungewisse. Dort trafen sie auf Mitarbeiter der Caritas, die der Familie anboten, sie nach Deutschland zu bringen. Er habe eingewilligt, ohne zu zögern, sagt Prokopenko. Denn als Kind habe er einige Jahre in Jüterbog, einer Kleinstadt in Brandenburg, gewohnt. "Deswegen hatte ich Deutschland als herzliches Land in Erinnerung."

Nach sechs Tagen bei einer Familie aus München ist er nun mit seiner Familie in eine Wohnung in Oberhaching gezogen. Es sei anstrengend, aber es gehe nicht um ihn, sagt Prokopenko. Das Wichtigste sei, dass seine Kinder sich wohlfühlten, "und die wirken fröhlich, seitdem wir in Deutschland sind". Ob sie jemals in die Ukraine zurückkehren werden oder überhaupt können, weiß Prokopenko nicht. Diese Entscheidung werde nicht er treffen, sondern seine Kinder: "Wenn sie hierbleiben wollen, werden wir das tun."

Die Kinder wollen sich bewegen, spielen Basketball und Fangen. (Foto: Claus Schunk)

Es ist paradox, Vycheslav Prokopenko zuzuhören. Er erzählt eine Geschichte, die einen als Zuhörer betroffen macht, die aber mit dem Kindertrubel drumherum auch hoffnungsvoll stimmt. Doch dieser äußere Eindruck täuscht über das hinweg, was in den Menschen vorgeht. Viele wollen nicht darüber sprechen, was sie erlebt haben. Eine, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, sagt, sie müsste sofort losweinen, wenn sie über ihre Flucht und diejenigen sprechen würde, die noch immer in der Ukraine sind. Und auch bei Helfern ist diese Ambivalenz spürbar.

Myroslava Smoljav stammt selbst aus der Ukraine und wohnt seit Jahren in Oberhaching. Sie spricht fließend Ukrainisch und Deutsch. Als sie vom Krieg erfuhr, hat sie sich sofort in der Gemeinde gemeldet, weil sie helfen wollte. Nun übersetzt sie und unterstützt, wo sie kann. Sie strahlt Zuversicht aus. Es scheint fast so, als würde sie jeden der ukrainischen Gäste mit Namen kennen. "Ich bin beeindruckt, wie tapfer und positiv die Leute sind", sagt Smoljav. Sie scherzt, lacht und redet mit vier Personen gleichzeitig. Oberflächlich scheint es, als würde ihr die Situation nichts ausmachen. Doch dann erzählt sie, dass ihr Bruder noch in der Ukraine lebt: "Als der Krieg ausbrach, hatten wir noch regelmäßig Kontakt. Nun habe ich seit einer Woche nichts mehr von ihm gehört." Danach schweigt sie.

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