Vorausgeschaut:Zuflucht für Kinder in Not

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Vroni und Gerhard W. erleben ihren Einsatz als Herausforderung und Bereicherung zugleich. Dazu gehört, jungen Menschen Struktur zu vermitteln und auch, den Kontakt zur Herkunftsfamilie zu pflegen. (Foto: Claus Schunk)

Vroni und Gerhard W. nehmen Pflegekinder auf. 75 Familien im Landkreis stehen dazu bei Bedarf auch kurzfristig bereit. Aber es bräuchte viel mehr. Eine Ausstellung im Landratsamt zeigt, wie wichtig diese Hilfe ist.

Von Annette Jäger, Sauerlach

Wer in Ruhe mit Vroni und Gerhard W. sprechen möchte, kann das gut um 14 Uhr tun. "Dann schläft die Kleine", sagt Vroni W. Die Kleine kam als zwei Tage altes Baby zu den Pflegeeltern nach Sauerlach im Landkreis München, der leiblichen Mutter war aufgrund ihrer Drogenabhängigkeit das Sorgerecht entzogen worden. Gerade hat das kleine Mädchen den dritten Geburtstag in seiner Pflegefamilie gefeiert und wenn Vroni und Gerhard W. etwas erfahren haben in ihrer Rolle als Pflegeeltern, dann ist es die Wichtigkeit von Strukturen und Regeln, deshalb: um 14 Uhr ist Mittagsschlaf, da gibt es kein Verhandeln.

Vor vier Jahren haben sich Vroni und Gerhard W., die aus Schutz für ihre Pflegekinder nicht mit vollem Namen genannt werden wollen, als Pflegeeltern für die Bereitschaftspflege beim Landratsamt registrieren lassen. Bereitschaft heißt, "wie die Feuerwehr" da zu sein, wenn es brennt, sagt Gerhard W. Und das bedeutet im Pflegekinderwesen, dass ein Kind sofort Hilfe braucht, Schutz, Geborgenheit und Ruhe. Im Fall ihrer kleinen Pflegetochter wurden sie nur knapp vor deren Ankunft in Sauerlach informiert. Die Kleine musste bei ihren Pflegeeltern erst mal einen Entzug durchmachen. Inzwischen sei sie "superfit", so der Pflegevater, und sie bleibt in Vollzeitpflege bei der Familie W. Als Bereitschaftspflegeeltern bleiben sie trotzdem registriert, für andere Kinder in Not.

Es gibt immer noch zu wenig Pflegefamilien. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Im Landkreis München gibt es derzeit 75 Pflegefamilien - viel zu wenige. Immer wieder müssen Kinder in andere Bundesländer vermittelt werden oder sie müssen in Einrichtungen untergebracht werden. Ein geborgenes Familienleben entgeht ihnen auf diese Weise. Eine Wanderausstellung, die am Montag, 19. September, um 14 Uhr im Landratsamt (Mariahilfplatz) eröffnet wird, soll auf die Bedeutsamkeit von Pflegefamilien aufmerksam machen und Aufklärungsarbeit leisten. Die Ausstellung ist bis 4. Oktober zu sehen (wochentags von 8 bis 12 Uhr, donnerstags auch 14 bis 17.30 Uhr) und wurde vom Verein "Freunde der Kinder" in Hamburg konzipiert und in Zusammenarbeit mit dem Referat für Kinder, Jugend und Familie im Landratsamt nach München geholt. Die Ausstellung gibt mit Fotos und Texten Einblick in den Alltag von Pflegefamilien im Landkreis.

Pandemie und Krieg erschwerten alles

Die Pandemie und der Ukraine-Krieg, der bei vielen Zukunfts- und Existenzängste auslöst, treffen das Pflegekinderwesen mit voller Breitseite. Potenzielle Pflegeeltern scheuen vor diesem Hintergrund die Mehrbelastung, die ein Pflegekind mit sich bringt, haben die Mitarbeiter im Landratsamt erfahren. Die Pandemie hat den Pflegeeltern das Leben schwer gemacht: Supervision und die unterstützende Begleitung durch das Landratsamt fand nur noch digital statt, was kein Ersatz für persönliche Treffen war; Homeschooling belastete die Pflegefamilien, der Kontakt zur leiblichen Familie - essentieller Bestandteil des Pflegekinderwesens - war oft schwierig, die Eltern hatten entweder keinen Zugang zu digitalen Medien, fühlten sich ausgeschlossen oder überfordert. Richtig entspannt habe sich die Situation immer noch nicht, heißt es im Landratsamt.

Kinder, die in eine Pflegefamilie vermittelt werden, benötigen besonders intensive Aufmerksamkeit und Betreuung. Denn jeder kommt mit einem schweren Rucksack: In ihren Familien gibt es psychische Erkrankungen, Suchtmittelabhängigkeit, Obdachlosigkeit, Gewalt, Vernachlässigung oder auch Missbrauch. "Bei uns haben sie eine Zuflucht und einen Ruhepol", sagt Gerhard W. "In sich ruhen", betrachtet Gerhard W. als wichtige Eigenschaft von Pflegeeltern. Und man braucht viel Zeit. Der Mangel daran ist ein weiterer Grund, warum es im Landkreis München zu wenige Pflegeeltern gibt: Aufgrund des teuren Wohnraums müssten meist beide Partner arbeiten -, Zeit für die intensive Betreuung eines Kindes bleibt da nicht, "das war vor 20 Jahren noch anders", haben die Mitarbeiter im Landratsamt erfahren.

Vernachlässigte Kinder sollen Geborgenheit und Halt erleben. (Foto: Daniel Bockwoldt/dpa)

Denn "nebenher" kann man kein Pflegekind in eine Familie integrieren, "da würde man über beide Ohren versinken", sagt Vroni W. Sie kann als Pflegemutter ganz zuhause bleiben und für die Dreijährige da sein, ihr Mann ist selbstständig und kann sich frei nehmen, wenn ein Neuzugang über die Bereitschaftspflege in die Familie kommt. Zuletzt ein elf Jahre altes Mädchen, das Gewalt in seiner Familie erfahren hat. Sie blieb drei Wochen lang.

Pflegefamilie zu sein ist eine Herausforderung in vielerlei Hinsicht. So muss man bereit sein, den Kontakt mit der Herkunftsfamilie zu pflegen, was nicht immer einfach ist. "Dafür braucht es Respekt und Einfühlungsvermögen", sagt Gerhard W. "Unsere Aufgabe sind die Kinder, dahinter stehen Eltern mit Schicksalen." Jeder bekomme eine Chance, "wir urteilen nicht". Eine Brücke zu schlagen, lautet die Aufgabe. Unterstützung erhalten Pflegeeltern vom Pflegekinderdienst im Landratsamt unter anderem mit Gesprächen, Supervisionen oder Fortbildungen.

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Eine weitere Herausforderung sind die Kinder selbst. Viele haben besonderen Förderbedarf und testen natürlich, wie alle Kinder, ihre Grenzen aus, sagt der Pflegevater. Viele kennen keine Regeln - Körperhygiene wie tägliches Zähneputzen müssen sie erst lernen, auch dass man täglich zur Schule geht. Gemeinsame Frühstücke und Abendessen sind ihnen fremd, sie lernen aber das Zusammenkommen am Tisch schnell zu schätzen, haben Gerhard und Vroni W. erfahren. Eine Pflegefamilie sei für beide Seiten ein Gewinn: Die Kinder erfahren wertvolle Hilfe und die Pflegeeltern schöpfen Kraft aus dem Erlebten. "Es befriedigt, wenn ein Kind zurück in seine Familie gehen kann, wo es hingehört", sagt Gerhard W., "man bekommt viel geschenkt", drückt es seine Frau aus. Kinder würden immer mit einem lachenden und einem tränenden Auge verabschiedet werden, "aber unsere Gefühle stehen im Hintergrund, wir sind nicht die Wichtigsten", sagt Vroni W. Die drei Jahre alte Pflegetochter werde, so wie es aussieht, für immer bei den beiden bleiben. Das Pflegekinderwesen sei somit auch für potenzielle Adoptiveltern eine Chance, mit Kindern zu leben.

Im Landratsamt am Münchner Mariahilfplatz ist die Ausstellung zu sehen. (Foto: Claus Schunk)

Die Familie W. hat sich entschieden, eine "Ergänzungsfamilie" zu sein. "Es ist unser Weg", sagt Gerhard W. In erster Ehe hat er bereits zwei Kinder adoptiert, die inzwischen erwachsen sind. Mit seiner zweiten Frau Vroni suchte er eine neue Lebensaufgabe. Es war beiden schnell klar, dass sie es sich zutrauen, Pflegeeltern zu werden. "Es bereichert unsere Familie", sagen beide.

Im Landratsamt hofft der Pflegekinderdienst auf mehr Familien, die so denken. Es gebe immer wieder auch positive Entwicklungen, heißt es. So habe der Ukraine-Krieg Familien bewogen, ein unbegleitetes ukrainisches Kind aufzunehmen. Einige haben sich jetzt erstmals mit dem Thema Pflegekind befasst und wollen sich als Pflegeeltern überprüfen lassen.

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