Parteien:Das rote Biotop

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Die 68er-Bewegung befruchtete die SPD auch in Haar: Der spätere Bürgermeister Helmut Dworzak war dabei. (Foto: Privat)

Der Ortsverein Haar gilt Sozialdemokraten im Landkreis als Herzkammer. Mit einem Fest blicken diese auf 101 Jahre zurück

Von Bernhard Lohr, Haar

Vielleicht kommt es daher, dass die SPD in Haar stets nach vorne schaut: auf den nächsten Schulbau, den nächsten Schritt beim Bahnhofsumbau oder den nächsten Plan zur Ortsgestaltung. Versehen mit den notwendigen Mehrheiten und an der Spitze mit Figuren wie Hans Wehrberger, Helmut Dworzak und Gabriele Müller bestimmt die Partei in Haar seit Jahrzehnten die Verhältnisse. Die Gemeinde ist so etwas wie die heimliche Herzkammer der Sozialdemokratie im Landkreis. Doch an diesem Mittwoch, 22. Mai, blicken die Roten in Haar einmal zurück. Sie feiern ihr 100-jähriges Bestehen in Haar. Und erst bei den Recherchen zu diesem Jubiläum hat die Haarer SPD vor lauter Regieren gemerkt, dass sie wohl sogar schon vor 101 Jahren gegründet wurde.

Allerdings ist die Aktenlage bei einer Partei, die von Beginn an bekämpft und von den Nationalsozialisten verboten wurde, dünn; gerade was die Anfangsjahre nach dem Ersten Weltkrieg und überhaupt die Zeit bis 1933 angeht. Vieles wurde vernichtet. Erst mit dem Bahnanschluss 1871 und mit der Fertigstellung der Heil- und Pflegeanstalt 1905 hatte sich der bäuerlich geprägte Ort geöffnet. Verwundete Soldaten, die im Krieg von 1914 bis 1918 in der Anstalt in einem Reservelazarett untergebracht waren, verbreiteten in den Wirtsstuben sozialdemokratische Gedanken. Spätestens 1918 war die SPD in Haar organisiert, wie sich bei den Recherchen für das 100-Jährige zeigte. Dabei stieß Helmut Dworzak auf ein Ereignis am 10. September 1950, als der SPD-Ortsverein den Genossen Benno Aumüller für seine seit 1918 bewiesene Treue ehrte. Dworzak selbst war von 1972 bis 1994 erst Gemeinderat und anschließend 20 Jahre Bürgermeister. Er prägte eine sozialdemokratische Ära und wird am Mittwoch im Bürgersaal des Gasthofs zur Post (Beginn 19 Uhr) den Festvortrag halten. Er wird dabei von Karl Marx den Bogen über den Kampf für Frauenrechte bis ins Haar von heute schlagen, wo die SPD mit aktuell 115 Mitgliedern bei einem Durchschnittsalter von 62 Jahren aus der Historie Kraft schöpfen könnte. Der SPD fehle aktuell "die begeisternde Vision", sagt Dworzak, "Verstand und Gefühl müssen wieder zueinander finden".

Mit viel Einsatz wurde in der Vergangenheit die rote Fahne in Haar hochgehalten. Ein Dokument des Gendarmerie-Kommissärs Helldorfer zeigt im Jahr 1930, wie stark die SPD am Ort organisiert war. 250 Mitglieder sind da für die SPD notiert, bei gut 4000 Einwohnern. Dworzak selbst fragt sich, ob das stimmen kann. Umgerechnet auf den Ort heute wären das 1200 SPDler. "Wie dem auch sei", sagt Dworzak, "die SPD Haar war eine gesellschaftlich bestimmende Kraft." Die NSDAP existierte 1930 in Haar noch gar nicht. Die SPD prägte das gesellschaftliche Leben. Sie gründete einen Fußballclub und den Arbeiter-Radverein "Solidarität", der spektakuläre Rennen auf Haarer Straßen ausgetragen haben soll. Es gab einen Arbeiter-Gesangsverein und im Zentrum einen Konsum-Laden, in dem Mitglieder verbilligte Lebensmittel erhielten. Der Schneiderhof in Gronsdorf war als linke Wirtschaft verrufen, wo große SPD-Waldfeste stattgefunden haben sollen.

Nach 1945 fand die SPD zurück zu alter Stärke und stellte 1946 mit Ludwig Moser den Bürgermeister. Von 1960 bis 1984 war Willy Träutlein, der 1977 sein Parteibuch abgab, die bestimmende Figur. Befruchtet von der 68er-Bewegung, der Willy-Brandt-Begeisterung und lokalen Größen wie dem Landtagsabgeordneten Peter Paul Gantzer wurde Haar zum SPD-Biotop. In der Politik am Ort, sagt Dworzak, sei die SPD erfahrbar. Der Blick über den Tellerrand gehörte aber stets dazu.

© SZ vom 22.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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