Integration:Reden über Sex und die Welt

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Joachim Weisner und Silvia Kittel erklären Flüchtlingen, wie Partnerschaft in Deutschland gelebt wird und wie Empfängnisverhütung klappt. (Foto: Angelika Bardehle)

Junge Flüchtlinge erleben in einer Ausstellung im Landratsamt offenen Umgang mit körperlicher Liebe und gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Der Aids-Beratungsstelle geht es um Aufklärung und Respekt gegenüber Frauen.

Von Cristina Marina, Oberschleißheim

In erster Linie geht es hier um Sex, doch plötzlich tauchen daneben andere Themen auf. "Was bedeutet für euch Respekt?", fragt Joachim Weisner. "Wir müssen vor den Menschen in der Schule oder Arbeit immer Respekt haben", antwortet Mohamad Mustafa. "Dann haben sie auch vor uns Respekt." Der 22-Jährige aus Syrien besucht eine Wanderausstellung über Sexualität und Gesundheit, die eine Woche im Landratsamt gastiert.

Weisner und seine drei Kolleginnen von der staatlich anerkannten Beratungsstelle für Schwangerschaftsfragen des Landratsamts München führen durch die Ausstellung. Die Aids-Beratungsstelle der Caritas hat sie im vergangenen Jahr für Flüchtlinge entworfen, um ihnen einen persönlichen Zugang zu sexueller Aufklärung und Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten zu ermöglichen. Denn Fragen wie diese werden in den Ländern, aus denen die Flüchtlinge stammen, in der Regel unter Verschluss gehalten. "Hier hat unser Klassenlehrer gemeint, wir können mit ihm sprechen", sagt der 18-jährige Ahmad Mohammadi aus Afghanistan. "Und er hat auch gesagt, dass es nicht so schlimm ist, diese Wörter zu benutzen." Mohammadi geht, wie Mustafa auch, auf dem "Future Campus" zur Schule.

Die interkulturelle Schule zur Berufsorientierung an der Jugendbegegnungsstätte am Tower in Oberschleißheim wurde vor eineinhalb Jahren ins Leben gerufen und gehört zur Berufsschule München-Land. Dort sollen Jugendliche im Berufsschulalter auf die Ausbildung vorbereitet oder sogar erst einmal alphabetisiert werden. Melanie Loth und Thanh Van Klaus begleiteten die beiden höheren der insgesamt fünf Klassen als Lehrkräfte durch die Ausstellung im Landratsamt. "Es ist ein Riesenfortschritt, überhaupt über Sexualität zu sprechen", sagt Loth. Van Klaus stammt aus Vietnam - auch dort habe damals ihre Biologielehrerin beim entsprechenden Kapitel im Lehrbuch einfach weitergeblättert. In ihrem Unterricht haben die beiden Lehrerinnen das Thema auch noch nicht drangenommen. Also stellt die Führung durch die mehrsprachige Ausstellung für die Schüler etwas Neues dar.

Ihre Muttersprachen seien auf den Plakaten zu finden gewesen, berichten Mohammadi und Mustafa, sie haben alle Wörter gekannt, sprachlich alles verstanden. Doch die eigentliche Bedeutung war ihnen bis dahin unbekannt. In seinem Heimatland werde nicht darüber geredet, auch und gerade in der Familie nicht, erzählt Mohammadi, ein dünner Junge mit wachen Augen und schwarzen Haaren. Jede Familie habe acht bis zehn Kinder, einfach so, ganz ohne Rücksprache und Verhütung. Und man dürfe auch als 20-jähriger Erwachsener keine Freundin haben; diesen Wunsch dem Vater mitzuteilen, sei allein undenkbar. "Aber hier ist das kein Problem", fügt er hinzu. "Eigentlich ist das gut." Was er von der Ausstellung mitnimmt? "Für mich war ein Satz besonders", antwortet Mohammadi: "Die Geschmäcker sind verschieden und zu beachten." Egal, welche Hautfarbe man habe. Und wenn man als Mann einen Mann liebt, und als Frau eine Frau? "Zwei Männer habe ich in Syrien schon einmal gesehen, zwei Frauen noch nicht." Für Homosexuelle sei es schlicht schwieriger als für einen "Mann mit Frau", sagt Mustafa. Auch in Afghanistan hielten sich Homosexuelle versteckt, doch natürlich wisse er davon, sagt Mohammadi. "Das ist doch in jedem Land so", meint er.

Die etwa 15 Schüler - alle männlich,denn die einzigen zwei Mädchen in beiden Klassen fehlten - bekamen in der interaktiven Ausstellung nicht nur Körperwissen vermittelt, sondern auch, wie man sich vor einer HIV-Infektion schützt. Ob sie sich vorstellen können, mit einem aidskranken Mädchen zusammenzusein? Mustafa und Mohammadi schütteln den Kopf: Nein, das nicht. "Das ändert sich spätestens dann, wenn sie sich verlieben", weiß Joachim Weisner. Der erfahrene Sozialpädagoge ist wie seine Kollegin Silvia Kittel seit fast 20 Jahren in der Schwangerenberatung tätig. Einen großen Teil ihrer Arbeit bildet Sexualpädagogik: Die beiden halten selbst Unterricht. In zwei Mal je zwei Schulstunden pro Klasse haben sie jährlich bereits etwa 300 Schüler aufgeklärt.

An Schautafeln wird thematisiert, was in vielen Ländern ein Tabu ist: zum Beispiel die Aids-Gefahr und wie man sich vor Ansteckung schützt. (Foto: Angelika Bardehle)

Doch die Nachfrage steigt, denn mit den jungen Flüchtlingen kommen neue Aufgaben hinzu. Der gesamte Bedarf sei ohnehin nicht abzudecken, dafür gebe es einfach zu viele Schulen im Landkreis, sagt Weisner. Die Beratungsstelle - derzeit mit zwei Vollzeitstellen besetzt - bräuchte mehr Personal: "Weitere zwei Vollzeitkräfte können wir locker gebrauchen", sagt Weisner. "Mehr Männer wären gut", ergänzt Kittel. Denn für manche Fragen, etwa zur Selbstbefriedigung, eigne sich ein gleichgeschlechtlicher Berater besser. Junge Flüchtlinge wüssten gerne, ob man davon Rückenschmerzen bekomme oder gar erblinde. Von der "Me too"-Debatte merkt sie in der Arbeit nichts. Doch Grenzen setzen, Schutz vor sexuellem Missbrauch - das alles ist laut Kittel seit jeher Bestandteil ihres Unterrichts. Die Tätigkeit in der Beratungsstelle sei so anspruchsvoll wie sinnvoll, sagt Weisner. "Viele Männer denken, es seien alles Frauenthemen bei uns, doch zu einer Schwangerschaft gehören beide Geschlechter."

© SZ vom 07.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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