Manche Dinge in der Welt sind einfach ein bisschen unfair. Dass man nie eine Eins in Mathe hatte, obwohl man doch genauso büffelte wie der Banknachbar. Oder dass der Kollege mit dem Porsche nach Hause fährt, während man selbst gerade seine 100. Überstunde vollmacht. So ähnlich sieht auch das Verhältnis zwischen Schloss Schleißheim und Nymphenburg aus. Beides waren Sommerresidenzen der Wittelsbacher, beide haben einen großen Park, in beiden Schlössern hängt historische Kunst. Aber trotzdem kommt Schleißheim nicht so ganz an den Nachbarn in München ran. 2015 waren gerade mal 32 000 Besucher da, in Nymphenburg fast zehnmal so viele.
Die bayerische Schlösserverwaltung will das ändern und veranstaltete am Wochenende eine PR-Aktion der ziemlich großen Art - mit dabei: Schloss Versailles, Schloss Herrenchiemsee, das Archäologische Museum Hamburg, die Albertina in Wien, die Kunsthalle Karlsruhe. Physisch anwesend war von diesen Institutionen niemand, aber heutzutage ist das ja auch gar nicht unbedingt notwendig. Im Internet, in sozialen Netzwerken, bei Facebook und Twitter kann man sich ja schließlich treffen, selbst wenn einen Hunderte Kilometer trennen. Die Schlösserverwaltung lud zu einem so genannten Tweetwalk.
Alle starren auf ihr Smartphone
Was so außergewöhnlich klingt, ist eigentlich eine ganz normale Schlossführung - nur dass sich niemand wundern darf, wenn alle statt auf Kronleuchter, Gemälde und Säulen in ihr Smartphone starren. Denn die Teilnehmer sollen das tun. Sie haben die Erlaubnis, eigentlich eher den Auftrag, was sie sehen, hören und erleben in ein paar Zeichen zusammenzufassen und auf Twitter hinaus in die Welt zu blasen. Und andere sollen diese Impressionen sehen und Lust bekommen, doch einmal ein bisschen weiter aus München hinaus, nämlich bis nach Oberschleißheim zu fahren.
Die Idee dazu hatte Tanja Praske, die im Auftrag der Schlösserverwaltung arbeitet. Im Vorfeld mobilisierte sie Museen und Schlösser in Deutschland und Europa, die der Führung online folgen und selbst ein paar schlaue Kommentare dazu abgeben sollten. So viel vorweg: Das Ganze funktioniert tatsächlich. Eine Reichweite von fast fünf Millionen Nutzern und 2000 Tweets gab es danach auf Twitter zu dem Thema.
Teilgenommen haben eigentlich bloß Menschen, für die das Internet schon lange kein Neuland mehr ist. Leute, die auf allen möglichen sozialen Netzwerken von Facebook bis Instagram aktiv sind. Leute, die Blogs schreiben, Leute, die zu den meisten Dingen, die auf der Welt passieren, eine Meinung haben. So wie Heinrich Bruns, dem auf Twitter fast 3000 Menschen folgen und der im Internet viel zum Thema Kultur und Politik veröffentlicht. Um sich von den anderen abzugrenzen, hat er auch sein Aufnahmegerät mitgebracht - Fotos macht ja schließlich jeder. Sein Ziel ist es, die Menschen an die Kultur heranzuführen und natürlich auch, auf sich selbst aufmerksam zu machen. Als freier Journalist lebt er schließlich davon, dass sich andere dafür interessieren, was er zu sagen hat.
Und so geht es auch den anderen Teilnehmern. Da sind noch zwei Frauen mit einem Foodblog, eine mit einem Strickblog und ein Mann, der in einer PR-Agentur arbeitet. Sie alle wollen nicht einfach nur irgendetwas über ein Schloss erfahren, sie wollen Leute erreichen. Ob das klappt, ist ziemlich gut messbar - anhand von Likes, Klicks, Followern. Und um die zu bekommen, muss man sich anstrengen.
Kann ein menschliches Gehirn das alles verarbeiten?
"Irgendwie geht mir gerade alles zu schnell", sagt eine Frau mit blonden Haaren. Sie klingt ein bisschen verzweifelt. "Ich mach' hier Twitter, Facebook, Snapchat. Ich komme gar nicht mehr nach." Die Gruppe steht gerade in der Neuen Galerie des Schlosses. Auf der einen Seite hängen an der roten Wand goldumrahmte Bilder, Ölgemälde. Auf der anderen Seite große Fenster mit Blick auf die Parkanlage. Während die blonde Frau noch ein Foto für Instagram schießt, twittern die Pinakotheken: "Alle europäischen Schulen des 17. und 18. Jahrhunderts sind hier mit bedeutenden Werken vertreten." Und die Schlossführerin erzählt, wie groß und alt die Galerie ist. Kann ein menschliches Gehirn das alles verarbeiten?
Markus Pflugbeil, PR-Spezialist mit fast 1000 Followern auf Twitter, meint: "Nein, man kriegt wirklich nicht alles mit." "Aber sonst tut man das ja auch nicht, oder?", sagt eine Frau mit Hornbrille, die sich bei Twitter unwind16 nennt und die abwechselnd mit ihrer Handykamera fotografiert und mit der Digitalkamera, die sie um den Hals hängen hat. Tanja Praske, sich das Ganze ausgedacht hat, sieht das mit der Aufmerksamkeit natürlich anders. Sie meint, dass zuhören, fotografieren, twittern und auf Facebook posten parallel schon funktioniert, aber: "Danach sind halt alle ziemlich platt."