Aschheim:Trauungen in Gebärdensprache

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Marion Seitz hat die Gebärdensprache aus Interesse gelernt und zum Beruf gemacht. Sie gefällt ihr, weil sie so bildreich ist. (Foto: Claus Schunk)

Marion Seitz, Dritte Bürgermeisterin in Aschheim, darf als Standesbeamtin auch gehörlose Paare verheiraten. Die Vertreterin der Grünen ist ausgebildete Dolmetscherin, sie sieht sich als Vorreiterin in Deutschland

Von Christina Hertel, Aschheim

"Hallo, du bist aber fett geworden." Eine Begrüßung, die Freunde zu Feinde machen könnte - zumindest wenn beide hören können. Unter gehörlosen Menschen könnten solche Sätze jedoch durchaus fallen, sagt Marion Seitz. "Wahrscheinlich sprechen Menschen, wenn sie sich alleine auf das verlassen müssen, was sie sehen, das Offensichtliche unbefangener aus."

Beobachtungen wie diese konnte Seitz in der Vergangenheit schon häufiger machen, denn sie ist Gebärdensprachdolmetscherin und nun womöglich die erste Standesbeamtin Deutschlands, die Trauungen in Gebärdensprache vornehmen kann. Denn am Donnerstagabend wählte der Aschheimer Gemeinderat, in dem Seitz für die Grünen sitzt und das Amt der dritten Bürgermeisterin bekleidet, sie zur Eheschließungsstandesbeamtin.

"Es ist eine ganz eigene Sprache und eine eigene Kultur."

Wenn zwei gehörlose Menschen heiraten, übersetzt normalerweise ein Dolmetscher das, was der Standesbeamte sagt. Dass ein Standesbeamter seine Rede jedoch gleich in Gebärdensprache hält, sei bis jetzt in Deutschland noch nicht möglich, sagt Seitz. Es gebe zwar freie Redner und auch ein paar Pfarrer, die Gebärdensprache beherrschen, einen Standesbeamten habe sie jedoch noch nirgends entdeckt.

Marion Seitz hält dieses Angebot jedoch für wichtig. Denn Gebärdensprache dürfe man sich nicht so vorstellen, dass Wort für Wort in Zeichen umgewandelt wird. "Es ist eine ganz eigene Sprache und eine eigene Kultur." Wenn jemand eine Geschichte in Gebärdensprache erzählt, so erklärt es Seitz, würde er immer zuerst die Szenerie beschreiben, eine Art Bühne aufbauen und dann die Erzählung mit dem Offensichtlichen beginnen.

Seitz begann schon während der Schulzeit in Augsburg, Gebärdensprache zu lernen. Einfach aus Interesse, ohne bestimmten Anlass, nahmen eine Freundin und sie an einem Volkshochschulkurs teil. An dessen Ende erwähnte die Leiterin, dass in Deutschland Gebärdensprachdolmetscher fehlen und weckte damit bei Seitz ihren Berufswunsch. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr auf einem Internat für gehörlose Menschen studierte sie in Zwickau Gebärdensprachdolmetschen.

In Bayern gab es den Studiengang damals noch nicht, inzwischen bietet ihn die Hochschule Landshut an. Später arbeitete Seitz im Dolmetscherbüro in München. Doch gerade ist die vierfache Mutter in Elternzeit. Sie freue sich deshalb umso mehr auf ihre neue Aufgabe, sagt sie. Wie groß die Nachfrage sein werde, sei jedoch schwierig zu sagen. Der Landesverband Bayern der Gehörlosen gibt an, im Freistaat lebten etwa 7700 Gehörlose, 300 Taubblinde und sehgeschädigte Gehörlose sowie 60 200 Schwerhörige.

Lange wurde die Gebärdensprache unterdrückt

Grundsätzlich haben alle Zweiten und Dritten Bürgermeister die Möglichkeit, so wie Seitz Standesbeamtin zu werden, um Trauungen durchzuführen. Dafür müssen sie ein Seminar besuchen, und der Gemeinderat muss sie wählen. Andere Aufgaben, etwa Geburten oder Todesfälle aufnehmen, dürfen sie aber nicht übernehmen. Wie sie die Trauzeremonie genau gestalten wird, ob sie zum Beispiel den Text für die anderen Gäste, die die Gebärdensprache nicht beherrschen, parallel oder hinterher vorlesen lassen will, könne das Brautpaar entscheiden, sagt Seitz.

Seit 2002 ist Gebärdensprache, die sich von Land zu Land unterscheidet, in Deutschland rechtlich anerkannt. Lange wurde sie unterdrückt und im 19. Jahrhundert sogar verboten, weil man davon ausging, dass Gebärdensprache gehörlose und hörgeschädigte Menschen nur davon abhielt, richtig sprechen zu lernen.

Während des Nationalsozialismus galten Gehörlose als Erbkranke, wurden verfolgt, zwangssterilisiert oder ermordet. Heute schätzt man, dass 200 000 Menschen die deutsche Gebärdensprache verwenden. Was Seitz an dieser Sprache gefällt? "Dass sie so bildlich ist und dass man so viel mit dem Raum arbeitet", sagt die Standesbeamtin. Zum Beispiel, um Zeit ausdrücken: "Alles, was hinter dem Rücken liegt, ist vergangenen. Und alles, was vor einem liegt, ist die Zukunft."

© SZ vom 29.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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