Grünwalder Friedhof:Das Leben hinter dem Grabstein

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Selfmade-Millionäre, Schauspieler, Künstler und ein Traumschiffkapitän: Christa Brühl gewährt bei einer Führung Einblick in die Geschichten von Verstorbenen. In der Promigemeinde weckt sie damit Erinnerungen an alte Bekannte

Von Claudia Wessel, Grünwald

Sein Grabstein ist eher schlicht. Nur zwei Namen stehen darauf: Hertz Rieger, 1918 bis 2001, und Helen Rieger, 1941 bis 2018. Einen Hauch von Luxus hat der Stein trotzdem durch das goldene, geschwungene R, das Logo der Firma über den Namen.

Wer an diesem Stein auf dem Waldfriedhof Grünwald vorbei flaniert, wird nichts erfahren über das Leben des ungewöhnlichen Mannes Hertz Rieger. Da die Gruppe jedoch mit Christa Bühl, engagiert vom Münchner Begräbnisverein, unterwegs ist, ersteht an diesem sonnigen Nachmittag vor den Augen der Teilnehmern eine große Villa mit Zwiebeltürmen, die Brühl zufolge der Basilika in St. Petersburg nachempfunden wurden.

Der erfolgreiche Pelzhändler Rieger hatte sich in Grünwald ein unglaubliches Heim geschaffen. Einer der Teilnehmer der Führung, der Grünwalder Arzt Wilfried Schlagbauer, 76, war einst in dieser Villa und weiß noch etwas beizutragen: "Rieger hatte ein Schaltbrett an seinem Bett und konnte auf Knopfdruck das Dach öffnen und unter dem Sternenhimmel liegen." Nach Riegers Tod gab es einen Besichtigungstermin für die Villa, an dem man auch Gegenstände käuflich erwerben konnte, sagt Schlagbauer. Dann wurde die Villa verkauft und abgerissen.

Viele kommen wegen ihm: Joachim Fuchsberger

Fünf Teilnehmer hat die kleine Führung über den Waldfriedhof an diesem Nachmittag. Christa Bühl machte zunächst Stadtteilführungen in München. Weil sie den Bogenhauser Friedhof und vor allem die Biografien der dort Begrabenen so spannend fand, spezialisierte sie sich auf Friedhofsführungen. Das wiederum kam dem Begräbnisverein zu Ohren, der sie heuer für vier Führungen engagierte, die Grünwalder ist die dritte.

Der dicke und sehr schwere Ordner, den Bühl dabei hat, enthält nur Informationen über den Grünwalder Waldfriedhof. Doch nach eineinhalb Stunden müssen die Teilnehmer passen, da sie nicht mehr laufen und auch nichts mehr aufnehmen können. 32 Menschenleben haben sie in dieser Zeit Revue passieren lassen, manche ausführlicher, manche nur kurz. 53 Namen standen auf Bühls Liste. Lydia und Rudi Hertwig aus Erding, die nur zufällig in die Führung gerieten und eigentlich nur das Grab von Joachim Fuchsberger sehen wollten, haben an diesem Tag ganz schön viel dazugelernt.

Noch bevor der Rundgang über den schattigen, im Jahr 1927 angelegten Friedhof beginnt, hört man von Otto-Ernst Holthaus. Christa Bühl weist auf das Todesmarschmahnmal auf der anderen Straßenseite hin, das der Grünwalder Holthaus gestiftet hat. Als 14-Jähriger hatte er den Marsch der abgemagerten und ausgemergelten KZ-Häftlinge aus Dachau mitangesehen und ihnen Essen zugesteckt. Später engagierte er sich für die Mahnmale.

Im Friedhof selbst beginnt die Führung bei Ullrich Haupt. "Erinnert sich jemand an ihn?", fragt Christa Bühl und hält ein großes Foto hoch. Doch alle müssen passen. Der Schauspieler Haupt (1915 bis 1991), spielte 1936 den Romeo in "Romeo und Julia", der Regisseur Gustaf Gründgens war von ihm begeistert und engagierte ihn immer wieder.

Das Grab der Bildhauer Ludmilla (1899 bis 1981) und Alexander Fischer (1903 bis 1981) ist die nächste Station. "Seine Werke galten als entartet", sagt Bühl. Noch heute gibt es einige Werke von ihm in Grünwald: das wiehernde Pferd, den Elefant Wastl, zwei raufende Buben am Derbolfinger Platz. Auch hier kann Schlagbauer etwas beitragen: "Ich habe als Kind bei Frau Fischer im Atelier gespielt", erinnert er sich.

An Menschen erinnern, die nicht mehr so präsent sind

Ein kleiner Hügel, auf dem eine rote Grablampe steht und ein halb zugewachsenes liegendes Engelchen, birgt eine interessante Geschichte. Hier, so Bühl, seien Kristina Böttrich-Merdjanowa und ihr Mann begraben. Kennt jemand sie? Nein, keiner. Christa Bühl hält nun ein Foto hoch mit einem Motiv, das jeder kennt: Die Augen, die vor jedem Tatort gezeigt werden. "Für den Entwurf bekam Kristina Böttrich 2500 Mark, einmalig", sagt Bühl. Und der Inhaber der Augen übrigens, Horst Lettmayer, habe ganze 400 Mark bekommen. Ein Prozess um einen späteren Nachschlag für beide ging verloren, so Bühl.

An Menschen zu erinnern, die nicht mehr so präsent in den Gedanken sind, ist eine segensreiche Wirkung dieser Führung. Natürlich kennen alle noch Joachim Fuchsberger, aber wer ist das? So fragt Bühl und hält das Foto eines Mannes hoch. "Ja, den kenn ich doch", sagt einer. "Das ist doch der aus dem Film 'Das Boot'." Nein, sagt Bühl, noch eine Idee? "Winnetou?" Nun muss Christa Bühl aufklären, wer es ist: Heinz Weiss, der einst den Kapitän auf dem Traumschiff spielte.

Bernbacher-Nudeln, Foto-Geschäft Sauter, Gründer der Dermatologischen Klinik an der Thalkirchner Straße in München, Gründerin von Escada-Moden - zahlreiche Aha-Erlebnisse folgen noch während des Rundgangs. Und auch ein trauriges Schicksal: Das Urnengrab von Silvia Seidel, als Kind berühmt als Film-Balletttänzerin Anna, später eher erfolglos, starb 2012 einsam und traurig. Vor ihrem Urnengrab sammeln sich Kunstblumen, Fotos und ein Stein, auf dem steht: Wir vermissen dich. Nicht nur die Füße streiken langsam, auch emotional sind alle mitgenommen. Es wird Zeit, in die Welt der Lebenden zurückzukehren.

Wer noch einmal mit Christa Bühl abtauchen möchte, kann sie unter christa.buehl@t-online.de erreichen (am 6. September plant sie im Auftrag des Begräbnisvereins eine Führung auf dem Münchner Nordfriedhof). Auch die VHS Grünwald bietet Führungen auf dem Grünwalder Waldfriedhof mit Hella Neusiedl-Hub an.

© SZ vom 21.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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