München:Das Erwachsene im Kind

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Der Garchinger Autor Wilfrid Grote macht Theater für junge Besucher. Er will sie fordern und zu unbequemen Fragen animieren

Interview von Sabine Oberpriller, Garching

Bei zwei Vorhaben ist Wilfrid Grote gescheitert. Der Garchinger wollte nie ans Theater. Und er wollte nie ein Kind. Dann begann er, Theaterstücke für Kinder zu schreiben. Und einen Sohn bekam er auch. Für seine Werke für das Kinder- und Jugendtheater hat er inzwischen das Bundesverdienstkreuz erhalten. Angelehnt an Bertolt Brechts "kleines Organon", das Thesen zum guten Theater enthält, hat Grote das "allerkleinste Organon" herausgebracht über das Theater für Kinder. Es enthält Denkanstöße zum Umgang mit Kindern, ihrer Fantasie und der Frage, wie das Theater darauf eingehen kann.

SZ: Was ist der größte Unterschied zwischen dem Theater für Erwachsene und dem für Kinder?

Wilfrid Grote: Ich nenne es einmal experimentelles Theater. Wenn ich Kindern ein Kissen zeige und sage, das ist eine Ente, dann sind sie bereit, es als Ente zu sehen. Sagen sie das mal einem Erwachsenen.

Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Theatervorführung?

Das war kein Kindertheater. Ich saß über der Bühne und habe den Rosenkavalier gesehen. Mein Bruder, ein Schauspieler, hat mich mitgenommen. Mein Onkel war Schausteller, hat aber auch Theater gemacht. In Niedersachsen sind sie mit bayerischen Stücken à la "Die Zenzi von der Alm" durchs Land gezogen und waren natürlich Exoten. Sie haben so getan als kämen sie aus Bayern. Die Vorstellungen waren immer ausverkauft.

Sie sind in das Theater reingewachsen.

Ich war immer mittendrin. Meine Tante war eine Schauspielerin, die erste Grande-Dame in Braunschweig. Sie hatte auch eine Schauspielschule. Meine Mutter hat die Kostüme genäht.

Was macht ein gutes Theaterstück für Kinder aus?

Es nimmt kein Blatt vor den Mund. Eine Geschichte oder eine Situation muss gut erzählt sein. Deswegen möchte ich, dass sich Schauspielschulen auch mit dem Theater für Kinder befassen. Das Erwachsene ist ja das Normale. Aber für Kinder zu arbeiten, ist außergewöhnlich.

Inwiefern?

Das zarte Wesen Kind muss man anders anfassen. Da muss man als Schauspieler eine außergewöhnliche Kunst zeigen. Es muss mindestens so gut sein wie für Erwachsene. Ich muss die Kinder ernst nehmen und als Autor in der Sprache, im Bewegungsrhythmus, im Ausdruck, in Farbe, Bühnenbild und Musik das Beste fordern.

Für Kinder ist der Begriff Theater ein sehr abstrakt er. Worauf muss man als Macher aufpassen?

Ich habe es bei meinem Sohn erlebt. Ich habe ihn in die Generalprobe zu meinem Stück "Hinter den 7 Tapeten" mitgenommen. Er war sechs. Wir durften in der ersten Reihe sitzen. Nach 20 Minuten wollte er in die letzte. Weitere 20 Minuten und er wollte hinter die Glastür und dann auf die Empore, einfach um Distanz zu finden. Kinder empfinden diese Geschichten sehr intensiv. Sie erleben Theater wie eine zweite Realität.

Wie haben Sie die Situation aufgelöst?

Theater für Kinder muss mindestens so gut sein wie für Erwachsene, sagt Wilfrid Grote. Kinder erleben Geschichten oftmals besonders intensiv. (Foto: Stephan Rumpf)

Hinterher bin ich mit meinem Sohn in die Garderobe gegangen und er konnte sehen, wie sich die Schauspieler abschminkten.

Für die übrigen Kinder, die in Ihre Vorstellungen kommen, ist das nicht möglich.

Kinder analysieren nicht, aber sie erahnen. Und da muss man dem Stück eine Chance geben. Man geht nicht davon aus, dass sie jeden Satz regelrecht verstehen, sondern ihn auch empfinden. Man muss also einen Wechsel finden zwischen Gut und Böse, eine Balance.

In Märchen ist Gut und Böse schwarz-weiß gezeichnet. Am Ende wird das Böse teils extrem bestraft. Ist das kindgerecht gestrickt?

Eben nein. Ich meine, wenn Kinder sich schon auf etwas einlassen, dann kann ich sie auch überfordern, ich kann sie dazu bringen, Fragen zu stellen. Etwa wie in der Maieutik, der philosophischen Dialogform von Sokrates. Der hat immer so gefragt, dass sein Gegenüber das Gefühl hatte, die Antwort selbst gefunden zu haben.

Meinen Sie das damit, wenn sie i n Ihrem Buch sagen, Theater solle aus Kindern für Eltern unbequeme Kinder machen?

Nein, aber manchmal stellen Kinder unbequeme Fragen, das will ich haben. Unbequeme Kinder sind sie dadurch nicht, aber unbequeme Fragen, das fände ich toll.

Warum machen Sie Theater für Kinder?

Meine Generation wollte die Welt verändern. Wir wollten sie aus den Fugen heben. Ich habe festgestellt: Wenn wir etwas erreichen wollen, im Sinne von besserer Kommunikation, größerem Verständnis für andere, Toleranz, wenn man da beim Kind anfängt und ihm gar nicht erst die alten Korsetts und Panzerungen umhängt, die sich in Erwachsene schon eingebrannt haben, dann haben wir eine Chance.

In Ihren Kurzthesen fordern Sie auch, das Theater solle sich an das Erwachsene im Kind richten.

Das Erwachsene im Kind ist das, was das Kind im Moment ist. Es will ernst genommen werden. Selbst, wenn es eine ganz blöde Frage hat. Aber ich nehme es ernst, wenn es nur fragt.

Nehmen wir unsere Kinder ernst?

Es wird immer wieder gefordert. Aber ich erfahre es selten.

In einem Kapitel ihres Buchs machen Sie den Eltern große Vorwürfe. Sie bezeichnen Familien als faschistoid.

Wir lesen so oft, dass Eltern ihre Kinder schlagen oder gar umbringen, das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die subtile Unterdrückung des Kindes läuft meiner Meinung nach überall. Es gibt wenige, die eine Balance im Umgang mit Kindern gefunden haben. Die Achtundsechziger haben sich gegen die schwarze Pädagogik gewehrt.

Das ist mittlerweile 40 Jahre her .

Naja, 'Was auf den Tisch kommt, das wird gegessen', das gibt es noch. Es heißt nur anders und stellt sich subtiler dar. Gewalt und Unterdrückung ist einfach zu erkennen, wenn jemand zuschlägt. Sich über die versteckten Sätze bewusst zu werden, ist dagegen schwer. Etwa 'Kämm dich mal' oder 'Du kannst dich im Alltag ja gar nicht bewegen'. Oder das Kind, das vor Verwandten singen soll, aber nicht möchte. Die Kindererziehung ist in Deutschland immer noch nicht auf einem Stand, wie wir ihn bräuchten, damit sie offen, frei, aufeinander bezogen und sozial ist.

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Wilfrid Grote wurde 1940 in Hannover geboren. 1967 zog er nach München und lebt heute in Garching. Er arbeitete für den Bayerischen Rundfunk, das Theater der Jugend und schreibt Hörspiele und Theaterstücke für Kinder.

Gibt es einen Unterschied zwischen den Kindern von vor 20 Jahren und den Kindern von heute?

Ich merke, wie vieles verloren geht, durch die schnellen Medien, die schnelle, verkürzte Sprache. Dem versuche ich eine poetische Sprache entgegenzusetzen. Ich habe erlebt, dass Kinder nicht mehr in der Lage sind, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Das hat mich erschreckt. Deswegen bleibe ich beim Theater. Da ist die Nähe zum Publikum, da ist das Bild, das Licht, die Sprache.

Wie steht es heute um das Theater für Kinder?

Bis in die Achtzigerjahre hinein gab es sehr viele freie Gruppen. Die sind heute großenteils weg. Es gibt nur ein paar, die sich halten können, weil sie sich an die großen Anstalten anschließen. In München gibt es die Schauburg. Das ist ein sehr gutes Theater für Kinder. Die Gelder werden weniger. So ist natürlich auch bei den Kindertheatern ein Rückgang sichtbar. Und dann brauchen Sie gute Schauspieler, die auch für Kinder spielen wollen. Davon gibt es wirklich nicht viele.

Sie selbst haben zuletzt an einer Inszenierung in Garching mitgewirkt. Ihr Stück "Der weiße Wisent" beschäftigt sich anlässlich des Jubiläums mit der Stadtgeschichte.

Es geht noch darüber hinaus. Es geht auch um Fremdenfeindlichkeit und Integration. Eine Ungarin irrt nach der Schlacht auf dem Lechfeld über die Felder. Sie wird bedroht und ausgeschlossen. Letztendlich schließt sie sich an die Familie an, um die es in dem Stück geht. Aber das ist ein Prozess.

Gibt es thematisch einen roten Faden in Ihren Geschichten?

Es gibt die Emanzipationsgeschichten, wie "Aufruhr in Schnauzhaltersheim". Dann gibt es die Antikriegsgeschichten. Das ist alles Erfahrung. Ich war fünf, als der Krieg zu Ende war. Seit meinem dritten Lebensjahr habe ich alles mitbekommen: die Luftschutzbunker, die Bombardements. Ich habe versucht, das umzusetzen. Nicht zuletzt die Faschismusgeschichten.

Gerade bei ernsten Themen wie diesen - wie viel kann man Kindern zutrauen, wie sehr muss man sie schützen?

Schützen muss man sie vor dem auch heute noch existierenden Faschismus, ob das nun Schlägertrupps, die NPD oder Pegida sind. Ich kann das nur im Theater. Und so sage ich auch den Theatermachern: Ihr seid verantwortlich, die Kinder zu schützen vor diesen Auswüchsen, dieser Ideologie.

Das geht aber nur durch Konfrontation mit dem Thema.

Natürlich. Aber, und das habe ich ja auch in meinem Buch in dem Kapitel "Faschis Mus" beschrieben: Die Konfrontation über das Theater ist noch etwas anderes, da kann man auch mal lachen. In der Realität ist das nicht zum Lachen.

Was geben Sie denn Eltern insgesamt mit?

Ich kann Eltern nur empfehlen, das Medium Theater ernst zunehmen. Weil auch Kinder Theater ernst nehmen und umgekehrt das Theater Kinder ernst nimmt. Denn es ist abseits von den neuen Medien und der Daumenschreiberei ein uralter neuer Impuls für das eigene Leben, für die Aufrechterhaltung der Fantasie.

© SZ vom 21.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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