Das Christkind ist ein multiples Wesen: Mal ein Baby, das in Bethlehem das Licht der Welt erblickt und so nackig-goldig in der Wiege liegt. Mal ein holder Knabe im lockigen Haar. Mal ein Nürnberger Madlaa, ebenfalls lockig. Gegebenenfalls mit Flügel. Freunde des Zeitgeists würden behaupten, das Christkind erfülle vielfältige Identitätsangebote oder sei eventuell genderfluid. Pfarrer Manuel Kleinhans fasst es konkret zusammen: "Einmal ist es ein wirkliches Kind, ein engelsgleiches Wesen, mit dem die Frage verbunden ist: Wer bringt die Geschenke?" Und andererseits werde es als der Sohn Gottes wahrgenommen, Jesus als Säugling. "Der neugeborene Heiland, der selbst das Geschenk ist", so Kleinhans.
Müßig zu fragen, welche Variante dem katholischen Geistlichen, der seit drei Jahren in Höhenkirchen-Siegertsbrunn lebt und neben dem dortigen Pfarrverband auch den Pfarrverband Aying-Helfendorf leitet, mehr zusagt. Als Kind hat der gebürtige Münchner auch ans Christkind respektive den Nikolaus geglaubt, die die Geschenke bringen, letzterer am 6. Dezember, das Christkindl an Heiligabend - natürlich, ohne gesehen zu werden.
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Dass das Christkind seinen weihnachtlichen Statusgewinn historisch eher dem Protestantismus verdankt, lag an Martin Luther, der es wohl als Kontrapunkt zum von den Katholiken als Heiligen verehrten Nikolaus ins Spiel gebracht und etabliert hat. "Er hat gesagt, Jesus ist wichtiger als der Nikolaus", so Kleinhans, "und das stimmt ja auch." Später wurde das Christkind in katholischen Gegenden beliebter, während anderswo der Weihnachtsmann an Popularität gewann. In jüngerer Zeit ist er als Santa Claus ohnehin Teil der Popkultur und als konkurrierender Gabenbringer eine große Nummer. Kleinhans, der in einem kultiviert-freundlichem Bairisch parliert, findet das eher zum Schmunzeln. "Er ist ja ein verkappter Nikolaus und er kommt am falschen Tag."
Wenn man freilich mit dem Pfarrer die Tür zur Schatzkammer in der Siegertsbrunner Wallfahrtskirche St. Leonhard öffnet und dort das in einem Schrein liegende "Fatschenkind" betrachtet, kann es kaum Zweifel geben, dass so ein Jesuskind ganz andere spirituelle Inspiration weckt. Die fein gearbeitete Figur aus dem 19. Jahrhundert - der Kopf aus Wachs, Glasaugen mit Goldspitzen und von farbigen Steinen umwickelt (gefatscht) - wird auch als "Siegertsbrunner Christkind" bezeichnet und entfaltet eine anrührende Wirkung.
"Eine Klosterarbeit, in der viel Arbeit steckt. Die Figur gehört zum Bestand der Kirche: ein beliebter Andachtsgegenstand für die Weihnachtszeit", erklärt Kleinhans. Der Begriff "Fatschenkind" komme aus dem Lateinischen, von "Fascia", was so viel wie Binde oder Wickelband heißt. Die Darstellung des Jesuskinds als gewickelter Säugling war vor allem in Süddeutschland und Österreich verbreitet.
In St. Leonhard hat das heimische Fatschenkind besonders zur Feier des Jahreswechsels seinen Auftritt. Dann wird es aus der Schatzkammer im Obergeschoss geholt - in der sich noch andere Preziosen wie eine Monstranz oder Altarleuchter befinden - und vor dem Altar platziert. Mit einer Andacht wird der Abschied vom alten und der Beginn des neuen Jahres gefeiert. Aus liturgischer Sicht ist die Andacht freilich auch Teil der Weihnachtszeit. Denn die endet, wie Kleinhans erklärt, erst am Sonntag nach Heiligdreikönig, dem Fest der Taufe des Herrn.
In dieser Kolumne erklären bis zum Heiligabend täglich Profis Bräuche und Traditionen der Advents- und Weihnachtszeit. Weitere Folgen unter https://www.sueddeutsche.de/muenchen/landkreismuenchen