Arbeiterwohlfahrt:Nach dem Krieg kam die nächste Tortur

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Großmütter der Demokratie: Abgeordnete der Mehrheitssozialisten in der Weimarer Nationalversammlung 1919. (Foto: Horst Ziegenfusz)
  • Mit einer Ausstellung in der Laimer Stadtbücherei feiert die Münchner Awo ihr 100-jähriges Bestehen.
  • Wesentlicher Bestandteil der Ausstellung: Das Leben und Wirken von Awo-Gründerin Marie Juchacz.
  • Juchacz sprach 1919 als erste Frau in der Weimarer Nationalversammlung.

Von Linus Freymark, Laim

Die Not ist groß im Winter 1919. Oft stehen die Menschen stundenlang vor den öffentlichen Suppenküchen an, Frauen, Kinder, Verwundete. Sie haben den Ersten Weltkrieg überlebt, und jetzt müssen sie die nächste Tortur durchleiden: den Hunger. Nahrung ist knapp in der jungen Weimarer Republik, der Staat und karitative Einrichtungen schaffen es wegen der alliierten Blockade überhaupt nicht oder nur kaum, die Bevölkerung zu versorgen. Um die Not zumindest ein wenig zu lindern, gründet sich am 13. Dezember 1919 die Arbeiterwohlfahrt - auf Initiative einer Frau: Marie Juchacz.

Ende 1919 ist Marie Juchacz 40 Jahre alt. Eine gelernte Schneiderin, die sich nach ihrer Lehre von ihrem Mann getrennt hat und alleine mit den Kindern aus dem heutigen Polen nach Berlin gezogen ist - in der patriarchalischen Gesellschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts ist das alles andere als selbstverständlich. Juchacz, die Sozialdemokratin, setzt sich für die Interessen der Arbeiter ein. Und für Frauenrechte. Im Februar 1919 hält sie als erste Frau überhaupt eine Rede in der Weimarer Nationalversammlung. "Meine Herren und Damen!", soll sie ihre Ansprache dort begonnen haben - und Gelächter geerntet haben. Diese Anrede waren die Abgeordneten nicht gewohnt, hatten doch bisher ausschließlich Männer Debattenbeiträge gebracht.

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(Foto: AWO-Ausstellung)

Marie Juchacz mit Elisabeth Röhl auf dem Titelbild der Illustrierten Zeitung im März 1919.

Marie Juchacz auf einer Fotografie in späteren Jahren.

Das 100-jährige Bestehen der Arbeiterwohlfahrt (Awo) feiert der Münchner Ortsverband derzeit mit einer Ausstellung in der Laimer Stadtbibliothek. Noch bis zum 31. Juli können sich die Besucher über die Tätigkeitsfelder der Awo und ihre Geschichte informieren, auch über das Leben ihrer Gründerin Marie Juchacz. In Awo-roten Bilderrahmen präsentieren sich Fotos, Schrifttafeln und Schaubilder, die den Aufbau und die Entwicklung der Organisation nachzeichnen und ihre Aktivität im Stadtteil deutlich machen. "Im Laufe der Ausstellung wird der Fokus immer mehr auf Laim gerückt", erklärt Karin Sporrer von der Münchner Awo.

Zunächst wird der Bundesverband vorgestellt, dann die Münchner Awo und schließlich der 1964 gegründete Ortsverein Laim. Heute unterhält die Awo sechs Einrichtungen im Stadtteil, zum Beispiel das Alten- und Service-Zentrum am Kiem-Pauli-Weg, die Hans-Weinberger-Akademie oder das Kompetenzzentrum Demenz, das sich wie die Akademie in der Landsberger Straße befindet. Auch deshalb habe man sich für die Laimer Stadtbücherei als Ausstellungsraum entschieden, sagt Sporrer. Und weil die Ausstellungsfläche bereits existiert hat: Denn die Bibliothek veranstaltet regelmäßig Ausstellungen über das Leben im Stadtteil. "Es ist wichtig, dass die Laimer die Möglichkeit haben, sich darzustellen", erklärt Eva Fetzer, die Leiterin der Bücherei.

Noch immer orientiert sich die Awo an Marie Juchacz

Auch die Zeit des Nationalsozialismus in der Geschichte der Arbeiterwohlfahrt wird in der Ausstellung thematisiert. Im Frühjahr 1933 wurden sämtliche Geschäftsstellen der SPD-nahen Organisation geschlossen und ihr Eigentum beschlagnahmt. Marie Juchacz emigrierte in die USA und organisierte von dort aus nach Ende des Zweiten Weltkriegs Hilfsaktionen für die deutsche Bevölkerung und den Wiederaufbau des Landes. 1949 kehrte sie zurück nach Deutschland, sieben Jahre später starb sie in Düsseldorf. In Berlin erinnert heute ein Denkmal am Mehringplatz an sie, auch ein Foto davon findet sich in der Ausstellung in Laim. Außerhalb von Gewerkschaften, Sozialverbänden und der SPD aber ist Juchacz heute eher unbekannt.

Die Arbeiterwohlfahrt aber orientiert sich in ihrer täglichen Arbeit noch heute an ihrer Gründerin. "Für Marie Juchacz war immer klar, es muss Hilfe geben", sagt Karin Sporrer, "aber Hilfe zur Selbsthilfe." Auch nach 100 Jahren ist diese Vorgabe für die Awo-Verbände in Laim, München und ganz Deutschland aktuell.

© SZ vom 18.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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