Kultur in der Krise:Leerstück

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Ist das eine Pestmaske oder hat ein Commedia dell'arte-Clown sie liegen gelassen? Ist das Theater Opfer der Seuche oder eigenen Zauderns? (Foto: Christian Ohde/imago)

Ein Text des Lyrikers und Dramatikers Albert Ostermaier über das Theater in Zeiten der Pandemie. Von Donnerstag an spricht ihn Florian Jahr im Stream auf der Seite des Residenztheaters

"Pest haucht in die Welt", die Hölle atmet aus, und Hamlet hat ihren Atem auf den Lippen, in den Lungenflügeln, die um die zweite Luft ringen. Es gibt immer Antwort bei Shakespeare, ermutige ich mich und kämpfe schon mit dem nächsten Satz, weil kein Doppelpunkt gelingen will, denn dahinter lauert nur die Leere. Die leere Bühne, ihr folgt der leere Kopf, der Leerlauf der Gedanken im Kreis, die lähmende Leere, die wie ein schwarzes Loch alle Buchstaben in sich von den Zeilen saugt, bis nur noch eines bleibt, das Papier, so leer wie die Bühne, zu der das Herz hin schlägt, leer.

Ohne Schauspieler schreiben, ist wie ohne Hände schreiben, ist wie sprechen mit verschlossenen Lippen, macht aus Träumen Traumata, aus Hoffnung Hoffnungslosigkeit. Es ist nicht so, dass es ohne Folgen bleibt. Was macht ein Pianist ohne Klavier? Spielt er auf dem leeren Tisch? Kann ich Theater nur sehen, wenn ich die Augen schließe? Und Theater träume? "Wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben." Dieser Satz Ernst Tollers hat sich mir von Anfang an eingebrannt.

Aber wenn ich heute vom Theater träume mit geschlossenen Augen, verschließe ich sie dann nicht doppelt? Wir sollen Theaterträumer sein, traurige Tiger, wir dürfen Tränen vergießen, hoffen, dass eine Träne die Kanäle zum Überfließen bringt. Aber ich kann nicht träumen, will nicht träumen. Das Spiegelbild der leeren Bühne ist der leere Zuschauerraum. Und nicht mal die Geister spielen hier mehr. Der Boden wird versiegelt. Die Hälfte der Stühle sind längst ausgebaut, die Lücken lärmen, du hörst sie, überall dort saßen Menschen. Wo hin sind all die Plätze? In welchen Lagerräumen warten sie? Wird am Ende einzig der Staub siegen? Irgendwann dreht sich die Bühne nicht mehr, alle Mechanik rostet ein. Und wir und unsere Widerstände. Nur der leere Blick bleibt. Aber das ist schon der Fehler, sich erst demütigen und dann entmutigen zu lassen. Ist es da nicht besser wie Richard III hinauszuschreien: "Die Pest euch allen!" Aber wem sie an den Hals wünschen? Wo es sich doch so anfühlt, als wäre sie selbst schon im eigenen Rachen, die Rache. Die Rachen wessen? Wer hat sich gegen das Theater verschworen?

"Lieber früher und schärfer reagieren, als spät und halbherzig", sagt nicht Richard, sondern der Ministerpräsident für den Herbst unseres Missvergnügens. "Winter is coming" steht auf seiner Tasse. Es sind diese Sätze, die uns hypnotisieren sollen, die immer alles und zugleich nichts erklären, denen man zustimmen kann, muss, will und dabei doch zugleich die eigene Stimme verliert, die nur mehr ein Kratzen im Hals ist. Diese Sätze sind Fugen, die uns lehren uns einzufügen. Wir nicken und merken erst spät, es war ein Schlag ins Genick. Man kann nicht widersprechen und kann danach nicht mehr widersprechen. "Theatermacher Fallensteller", klopft sich Bernhards Theatermacher Bruscon auf die eigene Schulter.

Aber mir ist eher, als wären wir in die Falle gegangen, andere sind längst bessere Fallensteller. Bevor ich den Mund aufmache, mache ich mich selbst mundtot. Bevor ich schreie, schreie ich mich selbst an. Denn ich komme nicht raus aus dieser Falle, aus dieser Klammer um meine Sätze. Jeder Satz wird gekontert mit den Beatmungsplätzen auf den Intensivstationen, in meinem Kopf brennt sich ein: sind die Bühnen leer, sind die Intensivstationen leer, die Risikogruppen geschützt. Das Theater wollte mal alle Alten töten, und es gibt Stücke, die heißen "Vatermord".

Warum muss ich jetzt daran denken? Weil ich eben in der Falle bin. Im Doppelfehler. Denn auf der anderen Seite lauern schon alle jene, mit denen man ums Leben nicht assoziiert werden will, die contagenen Coronaleugner, Reichskriegsflaggenfaschisten, Impfgegner. Sie alle sind mit schuld an der Schließung der Theater, ja, euch wünsche ich wirklich die Pest, den Maskenverweigerern keine Beatmungsmasken. Erstickt an eurer Narzismusnarkose. Ich fühle mich bei allem, was ich schreibe zwischen Scylla und Charybdis, nur bin ich nicht Odysseus, habe keine Listen wie der Listenreiche. Ich könnte mich höchstens wie er festbinden lassen. Aber so fühle ich mich ja, festgebunden in Widersprüchen, in Fesseln statt entfesselt. Und da ist er, der Sirenengesang. Wie komme ich durch diese Meeresenge? Mit einem Satz: Die Theater müssen offenbleiben! Und weil es so gut tut, solche klaren kraftvollen Sätze zu schreiben, gleich den nächsten: Kultur ist ein Grundrecht! Die Gottesdienste dürfen ja weiter singen, und die Demonstranten dürfen weiter demonstrieren. Weil es Grundrechte sind. Auf Religionsfreiheit. Auf Versammlungsfreiheit. Und die Theaterfreiheit? Auf welchem Altar wird sie geopfert, wenn wir uns auf der leeren Bühne nicht versammeln dürfen?

Warum ist es so weit gekommen? Warum haben wir nicht früher schärfer reagiert? Statt jetzt spät und halbherzig? Halbherzig, weil unser Protest höchstens eine Protestnote ist. Warum haben wir es nicht geschafft, systemrelevant zu sein, überlebensnotwendig für diese Gesellschaft, für unsere Demokratie, ihre Vielstimmigkeit? Warum haben wir nie mit einer Stimme gesprochen, gebrüllt oder von mir aus gesungen. Warum bringen wir uns immer erst dann zu Gehör, wenn es zu spät ist, wenn die Theater geschlossen sind, abgewickelt, durch Sparzwänge stranguliert? Warum ist unser Herz für das Theater so halbherzig? Unserer Vorsicht folgt immer die Nachsicht. Warum demonstrieren wir und unsere Zuschauer nicht? Warum verteilen wir unsere abgeschraubten Plätze nicht auf allen Plätzen. Warum sind die Schauspieler*innen nicht an einem Tag alle in ihren Kostümen überall in Deutschland in der Stadt und spielen? Weil wir dann die Superspreader sind? Warum sind wir so unsichtbar? So unscheinbar? Warum machen wir so wenig Theater um uns? Warum machen wir keine Szene? Weil wir an seidenen Fäden hängen, die bald gekappt werden, und dann liegen wir wie Marionetten ohne Spieler am Boden, und keine Mechanik und kein Kleist rettet uns mehr. Warum sind wir kein Chor?

Ja, die Aerosole. Aerosole mio. Wir sind ein Wirtschaftsfaktor, eine Industrie, argumentieren wir zurecht, aber all die beeindruckenden Zahlen interessieren niemanden. Warum nicht? Für die Politik rangieren wir unter "Freizeitvergnügen". Nie wurde deutlicher, wie es um das Verhältnis zwischen Politik und Kultur steht. Wir werden beleidigt, aber reagieren höchstens beleidigt. Profifußball findet statt. Ohne Zuschauer. Aber, da sind doch die Clubpräsidenten, Manager, Vorstände. Was machen die da? Spielen die mit oder sind das Zuschauer. Und wenn es nur zehn sind, das Theater darf nicht vor zehn Zuschauern spielen. Das nennt man Lobbyarbeit. Die Politik lässt sich eben lieber im Stadion sehen als im Theater. Fans sind Wähler, Theaterbesucher anscheinend nicht. Sollen wir den Politikern vielleicht Fanschals stricken, Resi-Ultra, Bühne des Südens? Die Politik behandelt uns wie eine Seuche, man darf sich nicht kontaminieren, muss Abstand halten, Distanz wahren. Theater sind Hochrisikozonen. Wovon wir immer geträumt hatten, aber nicht so. Weil wir zu wenig Risiko eingingen und nur mehr inzestuös uns um uns selbst und die Feuilletons gedreht haben. Aber das ist ein anderes Fass.

Unser Gesundheitsminister wurde positiv getestet. Das Kabinett muss aber nicht in Quarantäne. In den neuen Räumlichkeiten wären der Abstand zwei Meter gewesen, und der Gesundheitsminister hat seine Maske erst am Platz abgenommen. In den Theatern hat jeder Zuschauer mehr Platz, mehr Abstand, und darf die Maske am Platz nicht abnehmen. Eine Vorstellung dauert auch nicht länger als eine Kabinettssitzung. Die Politik macht jetzt das Theater. Sie brauchen uns nicht mehr. Ihre Bühne ist nicht leer, unsere darf es bleiben. Sie haben ein Ensemble, wir sind nur das Schattenensemble. Sie gehen nicht mehr von der Rampe. Es gibt kein Lichtzeichen für uns. Die Politik denkt, alles ist lösbar mit Geld. Entschädigungen heilen nicht die Beschädigungen. Die Kultur wird bezahlt, bezahlt aber einen noch viel höheren Preis. Das Ende der Spielzeit wird das Ende der Spielzeit sein, wie wir sie kannten. Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt. Das Theater spielt bald keine Rolle mehr. Das Spiel ist aus, bevor es wieder begonnen hat. Ich glaube an keinen Frühling unseres Vergnügens. Wenn wir nicht weitermachen, lauter werden, sichtbarer, unbequemer, wenn wir nicht nerven und endlich irgendeinen Nerv treffen.

Wie können wir die Theater öffnen, offenhalten, selbst wenn sie geschlossen sind? Nur virtuell? Kann man ein Theater auch für einen einzigen Menschen öffnen? Vielleicht sollten wir unsere Theater zu Supermärkten erklären, die Masken zu Friseursalons, die Werkstätten zu Baumärkten, die Zuschauerräume zu öffentlichen Verkehrsmitteln, die Bühne zum Gottesdienst, die Schauspieler zu Demonstranten, angemeldet natürlich.

Die Menschen werden Angst vor dem Theater bekommen, wenn wir ihnen nicht die Angst nehmen und sie mit ihnen teilen. Angst essen Seele auf. Angst essen Theater auf. Angst essen Schauspieler*innen auf. Angst essen Autor*innen auf. Die Angst im Theater ist tödlich. Die Angst besetzt unsere Bühne. Sie ist nicht mehr leer. Die Angst spielt uns ein Stück. Und wir spielen mit. Wir sitzen der ersten Reihe, aber die Stühle sind draußen vor der Tür. Da ist unser Platz. Erobern wir ihn. In der Kälte, im Regen, im Schnee. Erklären wir uns zum Theater. Wir sind das Theater der Körper. Wir schwitzen, wir frieren, wir atmen, wir lächeln, wir weinen, wir haben Schmerzen, wir freuen uns, wir haben Körper. Wir können auch mit Worten berühren. Wir können Abstand halten und ihn zugleich überwinden durch Empathie, mit unseren Augen, unseren Blicken. Fassen wir uns ein Herz gegen das Unfassbare. Wir sind Dickhäuter, sagt Büchner. Wir lassen uns die Haut nicht so leicht über den Kopf ziehen. Das Theater ist nackt wie die Wahrheit. Und wie sie geteilt am schönsten. Wir teilen, was wir haben, was wir suchen, selbst das, was wir verloren haben. Und wir teilen die Sehnsucht.

Und da ist er wieder, Shakespeare. Die Pest hat die Theater geschlossen. Die Puritaner haben die Theater geschlossen. Die Theater sind abgebrannt, der Sturm hat sie weggefegt, die Erde hat gebebt. Aber das Theater lebt. Es taugt nicht zum Sterben. Und lässt sich gerne von Lear das Beste wünschen: "Gott schütze dich vor Wirbelwinden, vor bösen Sternen und Seuchen!" Die Bühne wird nicht leer bleiben. Wir kommen zurück. Hasta la vista!

© SZ vom 05.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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