Kultur:Im Reich der Gummigesichter und falschen Schnurrbärte

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Eine Maske liegt zum Bearbeiten bereit. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Maskenwerkstatt der Kammerspiele ist ein Archiv der sonderbarsten Dinge. Ein Besuch.

Von Ekaterina Kel

An der Schwelle zur Welt der Schnurrbärte und Perücken kann so einiges passieren. Da trifft man mitunter die Schauspielerin Annette Paulmann, in einem quietschgrünen Kleid und mit roten Lippen auf einem Stuhl im Flur sitzend. Vor ihr eine Mitarbeiterin, mit Kamera in der Hand. "Wir machen hier gerade einen Film", ruft Paulmann den Besuchern laut zu. Ein nervöses Lachen, dann ist der Moment vorbei. Brigitte Frank übernimmt, begrüßt ihre Gäste. Sie ist die Leiterin der Maskenabteilung der Münchner Kammerspiele und lädt mit langen, ausgebreiteten Armen in ihr Reich, die Werkstatt.

Dort fläzt Leni, Paulmanns rotbraune Labrador-Hündin. Leni zeigt sich nicht sonderlich beeindruckt vom Geschehen. Dabei ist das, was man hier sehen kann, kein gewöhnlicher Anblick: Mit einer ungeheueren Selbstverständlichkeit wühlen gerade drei Maskenbildnerinnen in hohlen Köpfen herum. Sie greifen vom Hals hinein, fühlen dort nach, wo das Gehirn sitzen müsste. Dann drehen sie einen Kopf um, mit dem Gesicht zu sich. Da, das Kinn, das passt noch nicht, sagt eine und zieht es zum Hals herunter. An der Wange ist noch eine Falte, sagt die andere und streicht sie glatt. Dabei verzieht sich der Mund des Kopfes. Es ist der Mund von Walter Hess.

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Maskenwerkstatt der Münchner Kammerspiele ist ein Raum, in dem nichts unmöglich scheint. Hier ist eine Wand mit künstlichen Wunden zu sehen.

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Hier können sich Lippen auch mal verselbstständigen.

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Ein zwölfköpfiges Team arbeitet derzeit in der Werkstatt an den Masken für Susanne Kennedys Inszenierung von "Drei Schwestern".

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Damit die Latexmasken nicht schlapp an den Gesichtern der Schauspieler hängen, werden sie an die jeweilige Kopfform angepasst.

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Allerlei Pinsel verschiedenster Stärken kommen bei der Arbeit ebenfalls zum Einsatz.

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Alte Kopfabgüsse werden für einen möglichen weiteren Einsatz in einem extra Raum aufbewahrt.

Natürlich nicht der echte, nur sein passgenaues Gegenstück aus fleischfarbenem Latex, die offenen Lippen rosarot eingefärbt. Was sich da abspielt, ist der momentane Alltag von Brigitte Frank und ihrem Team aus elf Maskenbildnern. Zwei davon ziehen gerade die individuelle Gummimaske des Schauspielers Hess zurecht. Es ist noch einiges zu tun bis zur Premiere der "Drei Schwestern", in denen Walter Hess sich seine Maske überziehen wird. So hat es die Regisseurin Susanne Kennedy sich ausgedacht. Jetzt, zwei Tage vorher, ist allen klar, was genau gemacht werden muss, damit alles passgenau sitzt, sagt Frank.

Der Weg, den die Ansagen gehen, ist immer ungefähr gleich: Kennedy hat die Idee, ihre Kostümbildnerin, in diesem Fall ist es die ruhige Teresa Vergho mit den hellblauen Augen, macht sich an die künstlerische Ausgestaltung. Zusammen suchen sie nach Inspirationen, bis sie sich in einem ersten Entwurf manifestieren. Dieses Mal war dafür ein Einkauf bei maskworld.com nötig, denn die Masken aus Schaumlatex, komplett den Schädel umhüllend, bis runter zum Hals, mit Löchern für Augen und Nüstern, kann man fertig kaufen. Auf der Website wird der "sehr hohe Tragekomfort" angepriesen. Die Männermaske wird unter dem Namen Max Mustermann verkauft. Die Frauen laufen unter Gloria oder Diva Deluxe. Hat man eine davon berührt, um das glibberige Material zu erspüren, riechen die Hände noch Stunden später nach Gummi.

Am Anfang sah es schlecht aus, so Frank. Wenn sie erzählt, gestikuliert sie großzügig, die schmalen Hände kreisen umher. Nichts passte, der Latex schlabberte um Hälse und Wangen, die Lippen ließen sich nicht bewegen. Kennedy sei nicht zufrieden gewesen. "Sie saß dann da und sagte, so kann es nicht bleiben." Also hieß es für Franke und ihre Mitarbeiter: noch einmal ran. Sie überlegten, wie man die Gummigesichter eng an die eigentlichen Gesichter heranbekommt. Mittlerweile kann man das Ergebnis ihrer Überlegungen begutachten: feine Einschnitte, Nähte, Reißverschlüsse am Hinterkopf.

Der Raum, in dem Frank sich mit leichten Schritten, ein wenig tänzelnd, bewegt, ist hell und ebenmäßig erleuchtet. Lange Leuchtröhren hängen von der Decke und geben ein subtil kaltes Licht ab. In eckigen Blumenkästen vor der Fensterfront wachsen Grünlilien, die schon viele Ableger heruntergelassen haben. In der Mitte des Raums steht eine quadratische Tischfläche, an der die Mitarbeiterinnen die Reißverschlüsse in die Latexmasken nähen. Links und rechts stehen kleinere Tische und Spiegel. Gefühlt überall lugen einzelne Haarsträhnen irgendwo hervor, in den Nebenzimmern sind Aufbewahrungskörbe.

Man kann Stunden damit zubringen, die Beschriftungen der Reihe nach zu lesen und sich daran zu erfreuen. In unscheinbaren Stapeln von Kästchen lagern Dinge wie "Brusthaartoupets" oder "Diverse Haarkuriositäten". Weiße, grüne, gelbe Köpfe liegen in den Regalen und auf den Tischen. Rechts unten an der Heizung steht ein solcher Kopf mit einer zotteligen Kurzhaarperücke von einem dreckigen Rotblond. Daran hat jemand mit einer Stecknadel einen Zettel festgepinnt: "Angela Merkel". Sie ist noch nicht fertig, sagt Brigitte Frank, da schwingt der Stolz einer erfahrenen Maskenbildnerin mit. Was sollen die Leute denken, das sehe doch nicht aus wie Merkel, Fotografieren nicht erlaubt.

In der Mitte thronen die Schauspielerköpfe aus Gips. Eingefleischte Kammerspiele-Zuschauer könnten sie erkennen: Da sind die kleineren Köpfe von Anna Maria Sturm und Eva Löbau, Christian Löber steht dahinter, Benjamin Radjaipour direkt daneben. Ihre Augen sind zu. Sie schlafen, oder ruhen, oder leiden. Oder muss man korrekterweise sagen, es seien nicht ihre Augen, sondern die ihrer Modelle? Frank bemüht sich mit einer ihrer Mitarbeiterinnen, einen Gummikopf auf den Gipskopf aufzusetzen. Es stockt. Natürlich sind das nicht deren Köpfe. Alles sieht so eindeutig unecht aus - und trotzdem, sind es nicht die geschlossenen Augen von Christian Löber, auf die man da starrt?

"Welche ist die Realität, an die wir glauben?"

Kennedy sagt, selbst, wenn die Maske ab ist, selbst, wenn der Schauspieler mit seinem eigenen Gesicht auf der Bühne steht, existiert noch weiterhin eine Maske. Die Realität ist dann auch bloß eine weitere Hülle vor der Wahrheit. Und überhaupt: "Welche ist die Realität, an die wir glauben? Sind die Gesichter wahrhaftiger?", fragt Kennedy. Vielleicht hat sie recht. Für den Moment zählt aber vor allem der makellose Sitz von Gloria, Diva Deluxe und Max Mustermann in der Werkstatt.

Hier hat Kennedy viele ihrer Maskenideen überhaupt erst entwickelt. "Drei Schwestern" ist ihre fünfte Produktion am Haus und folglich auch die fünfte Zusammenarbeit mit Brigitte Frank. "Wer mal mit der Maskenwerkstatt der Kammerspiele zusammengearbeitet hat, ist verwöhnt", sagt Kennedy. Es ist der Blick fürs Detail, den Kennedy bei Frank und ihrem Team besonders schätzt. Den hat Frank vermutlich aus ihrer jahrelangen Arbeit für Filmproduktionen mitgebracht.

Mittlerweile sitzt die Gummihülle. Ein paar letzte Stiche, dann ist sie fertig für die Bühne. Überstülpen, ja. Verstecken lässt sich darunter aber nichts. Im Gegenteil, sagt Frank: "Die Dinge werden so sichtbar, wie unter dem Mikroskop."

© SZ vom 27.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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