Null Acht Neun:Der Blasengel von Giesing

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Zwischen Bauchmuskelpresse und Trizeps-Stärkung gilt es, möglichst unauffällig zu agieren - man glaubt kaum, auf wie viele Arten man beim Pumpen ein doofes Gesicht machen kann.

Von Christian Mayer

Seit Kurzem bin ich endlich Mitglied im Club, und ich muss sagen, dass ich es auf keinen Fall bereue, auch wenn's eine echte Qual ist. Genau das soll es ja auch sein, deshalb bezahle ich ja die Basis-Mitgliedschaft, um diese Momente der Ertüchtigung erleben zu können, in denen ich zum Beispiel die Bauchmuskelpresse durch eine Vorwärtsbewegung des Oberkörpers betätige. Dabei blicke ich angestrengt durch die Fensterfront auf den nie versiegenden Verkehrsstrom auf dem Mittleren Ring, in der Hoffnung, dass der eigene Ring in der Körpermitte bald dahinschmilzt. Was die Strukturierung des Bauchbereichs angeht, kann ich noch keine echten Erfolge verkünden. Aber ich bleibe dran, tapfer und fleißig.

Vor vielen Jahren hat Franz Beckenbauer, der wie die meisten Mitglieder meines Clubs aus Giesing stammt, das schöne Bild vom Blasengel geprägt. Beckenbauer bezog sich auf Stefan Effenberg, dem in seiner Spätphase als alterswilder Mittelfeldstar beim VfL Wolfsburg öfter mal die Puste ausging; beim Versuch, sich ein letztes Mal prachtvoll in Szene zu setzen, sah er so aus wie einer dieser lustigen Blasengel in barocken Kirchen. Allerdings sind es im Großraumstudio an der Tegernseer Landstraße vor allem jüngere Schwerarbeiter, die jeden Abend um halb acht Uhr die Backen blähen und dann 110 Kilo in die Horizontale wuchten. Diese Gruppe, überwiegend Männer, verbringt hier einen gewichtigen Teil des Lebens mit der körperlichen Aufrüstung, was von leisen Stöhngeräuschen und Grimassen begleitet wird. Schon erstaunlich, auf wie viele Arten man beim Pumpen ein blödes Gesicht machen kann - meines eingeschlossen.

Mein Ziel ist es, in diesem Umfeld möglichst unauffällig zu agieren und kein Risiko mehr einzugehen, seit ich damit gescheitert bin, an einem Gerät zur Trizeps-Stärkung genau das gleiche Pfund wie mein Vorsitzer zu stemmen - bei mir schnappten beide Arme nach hinten weg, Tücke der Schwerkraft. Am nächsten Tag konnte ich nicht mal mehr die Kaffeetasse halten. Vielleicht wäre es klug gewesen, einen Einweisungskurs zu besuchen, aber dafür ist im Giesinger Club keine Zeit: Stattdessen zeigen Instagram-Helden auf großen Flachbildschirmen, wie man sich mittels einer Langhantel in eine lebende Schrankwand verwandelt oder mit hohem Aufwand ein Kolossalgesäß entwickelt, das jeden Vergleich zu Kim Kardashian standhält.

So weit werde ich wohl nie kommen, aber sei's drum: Zumindest als Blasengel habe ich eine gewisse Begabung.

Christian Mayer bleibt auf Dauer vielleicht doch lieber beim Fahrradfahren. Das geht leichter.

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