Enoch zu Guttenberg weilte so um das Jahr 1990 herum in Gdańsk, das früher Danzig hieß. Dort hatte er kurz vor der Wende eine musikalische Leitungsposition bei der Danziger Philharmonie übernommen. Das führte dazu, dass er dort regelmäßig im Hotel abstieg. Zu dieser Zeit waren internationale Hotels im ehemaligen beziehungsweise bald ehemalig seienden Ostblock beliebte Anlaufstellen für Prostituierte, was auch heute noch so ist.
Eines Abends also saß Enoch zu Guttenberg in der Hotelbar bei seinem Feierabendbier, als sich eine Dame zu ihm gesellte und ihn fragte, weshalb er hier so allein herumsäße. Er erzählte ihr von seiner Tätigkeit in der Stadt und dass nun ein besonders wichtiges Konzert bevorstünde - vermutlich jenes zum Staatsbesuch Richard von Weizsäckers. Das fand die Dame ganz aufregend und fragte Guttenberg, ob sie nicht mit ein paar Freundinnen das Konzert besuchen könne. Guttenberg, leutseliger Freund aller Menschen, die offenbar Musik lieben, versprach, 25 Freikarten zu besorgen. Was wiederum die Organisatoren des Konzerts auf Trab brachte. Denn wenn der adelige Dirigent des Festkonzerts Karten benötigt, könne es sich doch nur um gewichtige Persönlichkeiten handeln. Also wurden einige Honoratioren samt Anhang und unter großem Murren auf hintere Plätze verwiesen, worauf eine Schar nicht eben dezent gekleideter Damen die Ehrenplätze einnahm, von denen nun Veilchenduft aufs Podium stieg.
Diese Geschichte zog weitere Kreise und beschäftigte sogar das Auswärtige Amt in Bonn. Es kam zu einem Briefwechsel zwischen Guttenberg und dem damaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, den man gerne lesen würde, doch herrscht momentan Uneinigkeit über den Nachlass, in welchem sich die Briefe befinden. Als Guttenberg schließlich 1997 die Danziger zum letzten Mal dirigierte - Anlass war wieder ein Staatsbesuch, diesmal der von Roman Herzog -, begrüßte ihn der ehemalige polnische Staatspräsident Lech Wałęsa mit den Worten: "Guten Tag, Herr Nuttendirigent." Und lächelte schelmisch.
Am 15. Juni 2018 ist Enoch zu Guttenberg völlig überraschend verstorben. Zum zweiten Todestag brachte Georg Etscheit eine Biografie über ihn heraus. "Musizieren gegen den Untergang" lässt Guttenberg in all seinen Facetten wieder auferstehen. Und eine Geschichte wie jene aus Danzig, deshalb musste man sie hier so ausführlich wiedergeben, ist wunderbar bezeichnend für ihn. Guttenberg war unkompliziert im Umgang mit Menschen, half gerne, und vieles, was er tat, erreichte eine öffentliche Aufmerksamkeit, die untrennbar mit seinem Namen verbunden war. Und noch etwas: Zeit seines Lebens hatte Guttenberg mit Neidern und Missgünstigen zu kämpfen, mit Leuten, die ihm musikalische Könnerschaft absprachen. Wałęsa wusste das vermutlich nicht, machte nur einen Witz, aber irgendwie trifft dieser mitten in die Ambivalenz der Wahrnehmung eines Künstlers, dem erst spät die Anerkennung zuteil wurde, die er schon viel, viel früher verdient gehabt hätte.
Im Vorwort erzählt Etscheit von seinem Plan, sich von Guttenberg selbst dessen Leben erzählen zu lassen. Im Herbst 2018 wollte man sich im Jagdhaus in der Steiermark treffen, wobei Guttenberg eines gleich klargemacht hatte: "Das Weihrauchfass bleibt im Schrank."Dazu kam es nicht mehr. Etscheit, ein versierter Journalist, stürzte sich in eine überbordende Recherchearbeit, sprach mit vielen Weggefährten und Künstlerkollegen, durchforstete Archive. Dank der Anmerkungen und des Registers ist das Buch ein veritables Guttenberg-Nachschlagewerk geworden, auch wenn man einen tabellarischen Lebenslauf vermisst und manches der tausenden Details ungefähr bleibt. Ob Guttenberg beispielsweise damals in Danzig Chefdirigent oder erster Gastdirigent des polnischen Orchesters war, bleibt vage. Da hätte des Lektorat des Schott-Verlags penibler sein können.
Nichtsdestotrotz zeichnet Etscheit akribisch den Lebenslauf eines Künstlers und Menschen nach, die Herkunft aus der uralten, politisch aktiven Familie, die Plagiats-Affäre um Sohn Karl-Theodor, die Guttenberg stark mitnahm, das Engagement für den Naturschutz. Guttenberg hatte einst den BUND, den Bund für Umwelt- und Naturschutz, mitbegründet und wurde über die Jahre zu einem seiner Widersacher, weil er den Ausbau der Windkraft für Wahnsinn hielt. Auch fächert Etscheit plastisch den enormen, aber toten Besitz der Familie auf, der letztlich nur durch den nach einer Sanierung überraschenden Erfolg des dazu gehörigen Rhön-Klinikums zusammengehalten werden konnte.
Vor allem aber ist da die Musik. Und Guttenbergs unabdingbares Brennen für sie. Das viel beschworene Wunder der Chorgemeinschaft Neubeuern, die er Ende 1967 übernahm. Die Zusammenarbeit mit der Klangverwaltung und mit vielen anderen Orchestern, die Welttourneen des Chors. Die Herrenchiemsee-Festspiele. Alle Musik steuert auf die Aufführung von Bachs Johannes-Passion dort 2017 zu. Auf ein grandioses Erlebnis, in Jahrzehnten erarbeitet. Den musikalischen Weg dorthin beschreibt Etscheit mit aller nötigen Ambivalenz anhand vieler Kritiken, unter anderen von Joachim Kaiser, der auch lange brauchte, um Guttenberg zu verstehen. Und ihn dann verehrte.