Jazz:Wie nach dem ersten Kuss

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Pianist Joachim Kühn im Augsburger Botanischen Garten

Von Oliver Hochkeppel, Augsburg

Manche Dinge kann auch Corona nicht zerstören, zum Glück. Etwa, dass ein Jazzkonzert, wenn das Wetter passt, atmosphärisch kaum schöner sein kann als rund um den offenen Pavillon im Rosengarten des Augsburger Botanischen Gartens. Dass ein Joachim Kühn dort mit seinem Trio die lange Pause - es war sein erstes Konzert nach fünf Monaten - in Minuten abschüttelt und wie gewohnt am Flügel wirbelnd zu großer Form aufläuft. Dass der 76-Jährige hinterher im Verehrerkreis so aufgeladen und glücklich wirkt wie ein 16-Jähriger nach den ersten Kuss. Und dass man als Zuschauer bei Kühn, selbst wenn man ihn schon oft erlebt hat, so fasziniert ist wie beim ersten Mal.

Das liegt in erster Linie daran, dass Kühn sich und seine Musik früh gefunden hat, aber nie stehen geblieben ist, sondern immer neue Ausdruckswege sucht. In seinem unverwechselbaren Stil fällt die komplette Geschichte des modernen Jazz ineinander, Third Stream (die Klassik ist in seinem Spiel immer präsent), Folklore Imaginaire und Bebop bis zu Freejazz und Avantgarde, aber auch die Rückbesinnung auf den Blues in seinen weltweiten Varianten. In Augsburg konnte man das alles schon im Einstiegs-Medley mit drei eigenen Stücken hören (darunter das neue "Alles S" - man kann sich denken, was das ausgeschrieben bedeutet), eingebettet in die typischen Kühn-Motive: die repetitiven Themen mit intuitiven Variationen, das Übereinanderpurzeln der Läufe mit versetzter Time, die "kühne" Harmonik mit dem "Diminished Augmented System", das Pendeln zwischen spröder Abstraktion und romantischem Wohlklang wie zwischen freier Rhythmik und betontem Groove.

Eine eigene musikalische Sprache, die auch fremde Kompositionen in den Kühn-Kosmos übersetzt. In Augsburg waren das Ornette Colemans Ballade "Beauty & Truth" (Kühn lernte ihn in ihrer gemeinsamen Zeit nicht nur als Freejazzer, sondern auch als Bluesromantiker kennen), zwei wunderbare The Doors-Klassiker und jeweils ein Stück seiner beiden Mitstreiter. Womit wir endlich bei Kühns "New Trio" sind, das nun auch schon vier Jahre und zwei Alben beim Hauslabel Act auf dem Buckel hat. Wer mit Kühn auf Augenhöhe spielen will, muss in den Fingern ebenso flink wie im Kopf sein und auch etwas wirklich Eigenes beizutragen haben. Schlagzeuger Eric Schäfer ist als Michael-Wollny-Weggefährte (der ja über Joachim Kühn seine Abschlussarbeit schrieb und sozusagen sein Nachfolger ist) wie mit seinem soundgestützten, immer federnd-fiebrigen Spiel geradezu prädestiniert dafür. Ebenso wie Bassist Chris Jennings mit seiner unter anderem bei Ngyuen Lê geschulten Spontaneität und Vielseitigkeit. Was logischerweise den fulminanten Höhepunkt dieses heuer sehr kurzen Augsburger Jazzsommers bescherte.

© SZ vom 07.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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