Interview:Vladimir Sorokin - Die Liebe der Fleischmaschinen

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Buchmesse. Ein gediegenes Hotel in Frankfurt am Main. Der livrierte Kellner serviert Kaffee im Silberkännchen. Vladimir Sorokin wirkt jugendlich, aber müde. Bevor er spricht, überlegt er lange.

Jochen Temsch

Wenn die Dolmetscherin übersetzt, legt er sich zurück. In seinem neuesten Roman "Ljod", das Eis, einer ironischen Aufarbeitung russischer Alltagsmythen geht es um eine Sekte, die Menschen mit Hammerschlägen erweckt. Wer nicht zur Erleuchtung fähig ist, stirbt grausam.

Zuletzt machte Sorokin Schlagzeilen, nachdem ihn die Putin-Jugendorganisation "Zusammen gehen" wegen angeblicher Pornografie im Roman "Der himmelblaue Speck" vor Gericht gezerrt hatte.

SZ: Kennen Sie Dieter Bohlen? Sorokin: Wissen Sie, was "Bohlen" auf Russisch heißt? "Er ist krank." Dieter Bohlen - Dieter ist krank. Modern Talking war mir immer zu süßlich. Ich höre lieber klassischen Rock.

SZ: Ein Mann wie er wird auf der Buchmesse als Phänomen behandelt. Wäre das auch in Russland möglich? Sorokin: So etwas existiert heute überall. Man sollte es allerdings nicht ernst nehmen. Es geht dabei nicht um Literatur. Der Mythos Literatur ist in Russland immer noch lebendig. Literatur wird immer noch als etwas Rätselhaftes, etwas von oben Gegebenes empfunden. Russland hat immer noch die empfindsamsten Leser. Schriftsteller werden fast wie Engel betrachtet. Früher hat man sie als Heilige behandelt.

SZ: Ihre Gegner sehen in Ihnen eher einen Satan. Sind Sie also ein untypischer russischer Schriftsteller? Sorokin: Man könnte mich zum Teil als typischen russischen Schriftsteller betrachten, zum Teil aber auch nicht. Es ist sowieso eine oberflächliche Beurteilung. Zum Beispiel, was neulich im Spiegel stand: "Sorokin, der russische Marquis de Sade." Andererseits sind solche Urteile natürlich, weil ich in mancher Hinsicht die Tradition der russischen Literatur zerstöre. Aber nur den maroden Teil.

SZ: Welcher Teil ist das? Sorokin: Eben jene Tradition, die aus russischen Schriftstellern Heilige macht. Sie waren nie heilig. Aus moralischer Sicht gesehen, waren sie sogar oft schlechter als die so genannten normalen Menschen und taten wesentlich schlimmere Sachen. In den vergangenen 150 Jahren war russische Literatur mehr als Literatur. Es gab einige poetische Idioten, die stolz darauf waren, mehr zu sein als Poeten. Ich reduziere russische Literatur auf Normalmaß. Sie ist kein Fetisch, kein Museum und keine Kirche.

SZ: Sie sind also ein Moralist? Sorokin: Ja. Ich glaube, dass ich eine Art von humanitärer Mission für Russland erfülle. Dabei bin ich nicht alleine. SZ: Das heißt, verglichen mit Ihren Gegnern sind Sie der wahre Patriot? Sorokin: Ja. Wenn Demokratie als Patriotismus betrachtet werden kann, dann bin ich ein Mann, der sein Land - in freiem Zustand - liebt.

SZ: Es gibt aber auch Kritiker, die meinen, Ihre Skandale seien als PR-Strategien kalkuliert. Sorokin: Ich habe mein Image nie absichtlich aufgebaut. Ich mag auch keine Skandale. Leute, die Skandale mögen, sind exhibitionistisch veranlagt. Ich bin eher voyeuristisch veranlagt. Der Skandal, den die Organisation "Zusammen gehen" veranstaltet hat, war für mich und meine Freunde eine ernste und unangenehme Geschichte.

SZ: Jetzt sind Sie bekannter denn je. Hat das Ihre Arbeit verändert? Sorokin: Nein, aber es hat dazu geführt, dass ich die Zeit schätzen lernte. In den kommenden Monaten will ich aus Moskau in eine einsamere Gegend ziehen, wo mich eine große Mauer von der Außenwelt trennt und ich in Ruhe schreiben kann.

SZ: Warum kippen Ihre Geschichten so oft ins Gewalttätige? Sorokin: Einige meiner Bücher kommen ganz ohne Gewaltdarstellungen aus. Das Thema hat mich allerdings schon immer bewegt, weil ich früh damit in Berührung gekommen bin, wie die meisten Menschen in diesem Land. Ich frage mich: Warum quälen und erniedrigen Menschen andere? Warum kommt Gewalt so oft im täglichen Leben vor?

SZ: Oder ist es auch eine Form Ihres Voyeurismus', Gewaltszenen zu beschreiben? Sorokin: Zum Teil, natürlich. Ich glaube, dass jeder Schriftsteller in gewisser Hinsicht ein Voyeur ist. Aber ich schaue nicht nur Gewaltszenen zu, sondern dem Leben und den Menschen grundsätzlich. Leo Tolstoi mochte es, seinen Familienmitgliedern nachzuspionieren. In seinem Haus konnte er alles offen sehen, aber es ging ihm darum, durch das Schlüsselloch zu beobachten. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Das ist die Leidenschaft, die einen Schriftsteller an seinem Schreibtisch hält.

SZ: Warum suchen die Menschen in "Ljod" so brutal nach Erlösung? Sorokin: Jede Metamorphose ist mit Schmerzen verbunden. Der Roman handelt von einem verzweifelten Versuch der Menschen, zum Paradies zurückzukehren. Das tut natürlich weh. Die Idee der Rettung ist in jeder Religion mit einer Art Auswahl verbunden. Auch in der Bibel steht: Es sind viele berufen, aber wenige auserwählt.

SZ: Warum weiß man als Leser nie genau, ob man die Protagonisten in "Ljod" sympathisch oder abscheulich finden soll? Sorokin: Genau darin besteht das Hauptproblem des Romans. Man empfindet Sympathie für den Versuch, gegen die Fleischmaschine im Menschen anzukämpfen. Andererseits verstehen wir, dass wir doch alle Fleischmaschinen sind. Für mich ist "Ljod" ein metaphorischer Roman. Er beschreibt die Sackgasse, in der wir uns mit unserer Zivilisation befinden. Wir verwandeln uns in Wesen, die automatisch leben. Der Automatismus der Entscheidungen, der Emotionen, sogar der Liebe des Menschen hat mich auf diesen Roman gebracht.

SZ: Warum ist die wahre Liebe in "Ljod" platonisch? Sorokin: Es ist ein Buch darüber, dass es auch ohne Sex geht.

SZ: Geht das wirklich? Sorokin: Rein theoretisch schon. Ich habe es allerdings noch nie ausprobiert.

Vladimir Sorokin liest am Mittwoch im Literaturhaus aus seinem Roman "Ljod. Das Eis".

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