Historisches Wasserspiel:Rückzugsort nicht nur für Trauernde

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Die Brunnenanlage im Ostfriedhof war eine kunstgeschichtliche Rarität, aber seit dem Zweiten Weltkrieg zerstört. Mit großem Aufwand wurde die Kaskade nun restauriert

Von Martin Bernstein

Robert Dreher von der städtischen Friedhofsverwaltung strahlt übers ganze Gesicht. "Das ist ein toller Tag", sagt er, "für Hans Grässel, für die Besucher des Ostfriedhofs - und für uns." Das Wasser plätschert leise, strömt über Konsolen in steingefasste Brunnenbecken und über drei Stufen nach unten. Die Kaskade auf dem Ostfriedhof ist saniert worden, in buchstäblich letzter Minute. 2,5 Millionen Euro hat die Stadt dafür in die Hand genommen. Viel Geld für einen Brunnen. Aber schon nicht mehr ganz so viel, wenn man sich bewusst macht, dass es sich um ein womöglich weltweit einzigartiges Kulturdenkmal handelt, dass nach schweren Bombentreffern im Zweiten Weltkrieg jetzt wieder hergestellt wurde.

Der städtische Baubeamte und Architekt Hans Grässel, der mit seinen öffentlichen Bauten und Planungen das München um 1900 mitgeprägt hat, konzipierte seinerzeit den gesamten Ring der neuen Münchner Großfriedhöfe. Der Oberfranke, geboren am 8. August 1860 in Rehau, war als Mitarbeiter im Büro Georg von Hauberrisser am Bau des Münchner Rathauses beteiligt, danach angestellt beim Königlichen Landbauamt München. 1888 wurde Grässel Bezirksingenieur der Lokalbaukommission, 1890 Bauamtmann für Hochbau. Das von ihm verantwortete Gesamtkonzept der Münchner Friedhöfe verrät einen in die Zukunft denkenden Geist. Dezentralität hieß das Zauberwort. München, sprunghaft auf 500 000 Einwohner angewachsen und damit nach Berlin und Hamburg zur drittgrößten Stadt Deutschlands avanciert, brauchte Platz für seine Toten. Grässel schuf ihn: vier Einzelfriedhöfe in den vier Haupthimmelsrichtungen. Für den Ostfriedhof hatte sich Grässel etwas ganz Besonderes ausgedacht. Er nutzte das von West nach Ost abfallende Gelände, um eine zweiteilige Kaskadenanlage zu schaffen. Eine Rarität auf einem Friedhof. Aber eine mit Hintergedanken.

Kein fürstlicher Schlosspark, sondern ein Ort zur Erholung für alle Bürger: die wiederhergestellte Kaskadenanlage im Ostfriedhof. (Foto: Catherina Hess)

Die Tradition der Kaskaden geht bis in die Antike zurück. Vor allem im Barock waren Kaskaden - wie etwa im Nymphenburger Schlosspark - prächtige Bestandteile fürstlicher Residenzen. Die Einbeziehung einer solchen Anlage in einen Friedhof ist einzigartig. Grässel erkannte zum einen den Erholungswert der von ihm geschaffenen Friedhöfe. Zum anderen aber setzte er ein Zeichen wachsenden bürgerlichen Selbstbewusstseins. Erstmals wurde das bis dato Fürsten vorbehaltene Architekturelement Kaskade auf einem Friedhof für jedermann errichtet.

Eine zeitgenössische Beschreibung zeigt, welchen Eindruck die Kaskade auf die Münchner des Jahres 1902 machte: "Das hier gegen Osten abfallende Terrain ist dankenswerterweise nicht aufgefüllt", schrieb Moriz von Lasser, "sondern zu einer quer über den ganzen Friedhof laufenden Erdterrasse benützt, welche in angenehmer Weise unterbrochen wird von schönen Fontainen, ballustradenumrahmten Wasserfällen und Ruheplätze anbietenden gemauerten Terrassen." Und weiter: "Das gleichmäßige Rauschen, Murmeln und Plätschern dieser Wassermassen während der nachmittägigen Beerdigungszeit erhöht den stimmungsvollen Eindruck der ernsten Stätte."

Alte Steine wurden wieder verwendet, wo immer es ging, auch wenn es dadurch farbliche Unterschiede gibt. Kriegsschäden wurden bewusst nicht repariert. (Foto: Catherina Hess)

Dann kamen der Zweite Weltkrieg und die Bombentreffer. In den Fünfzigerjahren wurden die Wasserläufe entfernt. Über Grässels Kunstwerk wuchs buchstäblich Gras. Viele Obergiesinger wussten irgendwann gar nicht mehr, was die verfallenen Mauern einst gewesen waren. Sie sahen Holzbalken als Sicherung, bröckelnde Becken, Stützmauern, die selbst gestützt werden mussten. Für die Stadt gab es nur noch zwei Optionen: einebnen oder sanieren. Für Denkmalschützer, für den Bezirksausschuss Obergiesing-Fasangarten, für Robert Dreher und seine Kollegen von der Friedhofsverwaltung war Letzteres eine Selbstverständlichkeit.

Ein siebenstelliger Betrag würde nötig sein, das war schon bald klar. Und es ging um die Frage der Originalität, um Erkennbarkeit und historische Spuren. Es hat lange gedauert, ehe nach dem Stadtratsbeschluss von 2015 mit der Restaurierung begonnen werden konnte. Den jetzt wieder sprudelnden Kaskaden sieht man die Spuren an, die das 20. Jahrhundert hinterlassen hat. Die vorhandenen Steine wurden in einem "überaus spannenden Puzzle" (Stadtdirektor Herbert Melchior aus dem Baureferat) abgetragen, nummeriert, gereinigt und wieder verlegt. Auf den ersten Blick ist zu erkennen, was alt ist und was neu. Die Steine haben unterschiedliche Farben, an den historischen Stellen fehlen Ecken und Kanten, auf manche Details der Grässel-Zeit wurde bewusst verzichtet. Hier ist nicht Kunstgeschichte aus der Retorte entstanden, sondern Geschichte sichtbar gemacht worden. Für Umweltreferentin Stephanie Jacobs war deshalb der Donnerstag, der Tag der Einweihung, ein "wahrlich historischer Tag".

© SZ vom 20.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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