Historie:Zahlen, bitte!

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Das Pasinger Archiv sammelt, was andere wegwerfen: alte Rechnungen zum Beispiel, die viel erzählen können über eine Silbergussfüllung für Fräulein Theas Zahn, Zuckerwerk von Elly Seidl oder Nachttöpfe aus Plexiglas

Von Jutta Czeguhn, Pasing

Zahnarztrechnungen bereiten heutzutage in der Regel physische Schmerzen, die jene im Behandlungsstuhl erduldeten weit übersteigen. Kein Wunder, dass man das Papier nach der Überweisung am liebsten an den Reißwolf verfüttern möchte. Fräulein Thea hegte derlei Vernichtungsdrang offenbar nicht. Die Mitarbeiterin eines Haushaltswarengeschäftes an der Pasinger Bahnhofstraße (heute Gleichmannstraße) bewies wohl eher unbewusst Weitblick und hob ihre Zahnarztrechnung vom 12. Oktober 1948 auf. Vier Mark zahlte sie damals an Dr. Kammermeier für Zahnsteinentfernung, 20 Mark für eine Füllung aus Silberguss. Das Pasinger Archiv erzählt uns diese Dentisten-Episode im soeben erschienenen Jahresheft. Sie ist so etwas wie die Krone - um im Bild zu bleiben - in einer kuriosen Sammlung alter Rechnungen, die die Stadtteilhistoriker verwahren.

"Bereits vor vielen Jahren entdeckten wir den zeitgeschichtlichen Wert von Handelsrechnungen", schreibt Autor Thomas Hasselwander, zusammen mit Stefan Ebert Leiter des Pasinger Archivs. Oft würden sich hinter so einer Zahlungsaufforderung "hochinteressante Inhalte" verbergen, mal ganz abgesehen vom Wert der Waren, für den man allerdings tiefer in die Materie historische "Kaufkraftberechnung" einsteigen müsste. Viele Hinweise zieht der Ortshistoriker aus den Rechnungen auf Lebensgewohnheiten oder den Lebensstandard bestimmter Bevölkerungsgruppen, aber auch auf den Status einer Firma.

Kalkuliert kurbeln: die Sprossenradrechenmaschine aus dem Hause Walther. (Foto: Pasinger Archiv/OH)

Hasselwander ist beim Stöbern in den Beständen aufgefallen, dass so eine "Faktura", also Rechnung, einst nicht selten wie eine Visitenkarte für ein Unternehmen verstanden wurde. Weshalb man sogar Künstler mit deren Gestaltung beauftragte. Womöglich bezahlt man eine Rechnung bereitwilliger, wenn sie nach etwas aussieht?

Aber nein, wohl doch nicht, wie ein aufwendig verkünsteltes Papierchen der Münchener Eggenfabrik nahelegt: Es handelt sich um eine "Abmahnung" aus dem Jahr 1907. Da wird jemand an die Zahlung von gleich vier Rechnungen erinnert, summa summarum 161,85 Mark ist er schuldig geblieben. Der säumige Kunde allerdings dürfte es nicht zu verantworten haben, dass das blühende Unternehmen an der Hildachstraße 1928 aufgeben musste. Die allgemeine Not in der Landwirtschaft jener Jahre hatte zu einem "völligen Mangel an Aufträgen" geführt". Heute ist die Eggenfabrik mit ihrem lang gestreckten, mehrfach geknickten Satteldach ein Pasinger Baudenkmal, das zu einer Eventsporthalle umgebaut werden soll.

Die meisten Unternehmen, zu deren Rechnungen Thomas Hasselwander eine kleine Geschichte zu erzählen weiß, gibt es schon lange nicht mehr. Wie zum Beispiel die Schreinerei Gött, die 1949 für das Leimen einer Haarbürste und einen neuen Holzbodeneinsatz in eine Kaffeemühle 4,20 Mark einforderte. Die Schreinerei, ansässig in einem Rückgebäude an der Landsberger Straße, war eine Art früher Baumarkt für Heimwerker, die sich "beim Gött" ihre Holzplatten auf den Millimeter genau zuschneiden ließen. Meister Eduard Gött hatte zwei Schwestern, welche die Plattengrößen berechneten und damit den Preis. Dazu benutzen sie modernste Bürotechnik: Sie kurbelten an der mechanischen Sprossenradrechenmaschine der Firma "Walther" aus Thüringen, die einst als Büchsenmacherei begann. Noch heute geht James Bond nie ohne seine Walther-Pistole aus dem Haus. Das Pasinger Archiv allerdings hat keine Waffe, sondern eine jener beeindruckenden, kiloschweren Rechenmaschinen in seinem Bestand.

Auch ins Design ihrer Rechnungen haben manche Firmen in früherer Zeit viel Sorgfalt gesteckt - vielleicht zahlt der Kunde dann bereitwilliger? (Foto: Fotos: Pasinger Archiv/oh)

Unverzichtbar im Pasing vergangener Tage war auch Eisen-Fuchs an der Lagerhausstraße (heute Rathausgasse). Dort bekam man, so besagt eine Rechnung aus dem Jahr 1950, Nachttöpfe aus Plexiglas, Stückpreis 1,96 Mark. Den Tank füllten die Pasinger an der Tankstelle Löhr nahe dem Knie auf, der Liter Esso kostete 1955 nur 67 Pfennige. Für Süßes drängten sich die Leute damals im schlauchengen Spezialitätengeschäft von Elly Seidl an der Gleichmannstraße, wo das Haushaltswarengeschäft Riedl 1957 eine Packung Pralinen für sechs Mark erwarb.

Thomas Hasselwander konnte auf der Rechnung für das Konfekt keine genaue Mengenangabe entdecken, geht aber davon aus, dass das Packerl für etliche Leute zum Naschen reichte. Unter anderem für besagtes Fräulein Thea, die ja bei Riedl arbeitete und womöglich auch Ende der Fünfzigerjahre noch Patientin war in der Praxis von Dr. Kammermeier. Pasings damals bekanntester Zahnarzt, so weiß Ortshistoriker Hasselwander aus einer Ausgabe des Würmtalboten, hat erst im Mai 1967 die "Himmelskutsche bestiegen" und war "in die Ewigkeit abgereist".

Die Ausgabe 2018 der Schriftenreihe des Pasinger Archivs, 96 Seiten, ist für 11,50 Euro im Buchhandel erhältlich oder per E-Mail zu bestellen unter pasinger.archiv@t-online.de.

© SZ vom 03.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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