Harlaching:Sprechende Skulptur

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In Harlaching gibt es nun einen gut gewählten Ort für das Gedenken an das November-Pogrom

Von Julian Raff, Harlaching

Das Gedenken an die Pogrome vom November 1938 gehört nicht nur ins Stadtzentrum, sondern überall dorthin, wo es Opfer und Täter gab. In Harlaching hat es nun mit einem Mahnmal in der Grünanlage an der Hochleite einen festen Ort, der sich bereits bei der Enthüllung als gut gewählt erwies: An der Gedenkstunde nahmen auch zufällige Passanten teil. Spontane Aufmerksamkeit ist der Stele des Untergiesinger Künstlers Hans Martin Kieser auch künftig sicher: Wo die Isenschmidstraße über der Marienklause auf den Isarhang trifft, herrscht reger Fuß- und Radverkehr. Ausflügler sind dort ebenso unterwegs wie Fahrradpendler.

Spontane Aufmerksamkeit erregt das Werk von Hans Martin Kieser mit in Stahl gestanzten Stichworten der Menschheitsgeschichte. (Foto: Robert Haas)

Aus der Autoperspektive, wie sie die Aufstellung an einer Hauptstraße geboten hätte, bliebe das Werk stumm, es spricht erst bei näherem Hinsehen: Was aus der Ferne als monolithische rostbraune Säule erscheint, hat Kieser als Geflecht verschweißter Stahlbänder gestaltet, das sich nach unten sedimentartig verdichtet, wie ein "Grabungsschnitt", so Kieser. Darin verteilt sind in Stahl gestanzte Stichworte für Hoch- und Tiefpunkte der Menschheitsgeschichte, niedergedrückt von einer figürlichen Darstellung der Pogrome. Er habe sich erst nach langer Überlegung gegen eine abstrakte Umsetzung entschieden und die Täterfiguren schließlich in einer grob wirkenden Schneide-Schweiß-Technik ebenso hässlich wie "hoffnungslos, leidend, untergehend" dargestellt, erklärt der Bildhauer und Architekt.

In Hans Martin Kiesers Atelier in einem Untergiesinger Herbergshäuschen entstehen sonst eher heitere Figuren. (Foto: Privat)

In seinem Atelier in einem Untergiesinger Herbergshäuschen entstehen sonst eher heitere Figuren, wie etwa ein amphibisches Mischwesen, das an einer Laterne überm Kolumbusplatz schwebt. Den Auftrag des Bezirksausschusses (BA) Untergiesing-Harlaching hat Kieser daher zwar gern, aber nicht ohne Bedenken angenommen und das Konzept über Monate weiterentwickelt, im Dialog mit dem BA.

Vom Ergebnis zeigten sich die Besucher ebenso überzeugt wie von der würdigen Gestaltung der Gedenkfeier: Die gebürtige Harlachingerin Andrea Pancur hat einen Großteil ihres Musikerlebens der jüdischen Musiktradition gewidmet und interpretierte, am Akkordeon begleitet von Maria Dafka, einen jiddischen Text des Partisanendichters Hirsch Glik und das "Dachaulied" von Jura Soyfer und Hans Zipper.

Stellvertretend für die verfolgten Juden aus dem Viertel steht das Schicksal von Karl Adler und Ernst Karl Henle, vorgetragen von zwei Schülern des Theodolindengymnasiums. Adler wurde am 22. November 1938 In Dachau ermordet. Der frühere Stadtbaudirektor Henle nahm sich am 11. November 1938 das Leben. Die Polizeiakte vermerkte: "Wollte der Familie nicht hinderlich sein, da Jude".

© SZ vom 12.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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