Harlaching:Den Menschen erspüren

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Zwei Wochen betreuen zehn Pflege-Auszubildende Patienten in der Neurologischen Frührehabilitation des Klinikums Harlaching. Blutdruck messen, sanfte Mobilisierung und die richtige Ansprache - der Pilotversuch soll die Praxis früh erfahrbar machen

Von Julian Raff, Harlaching

Mit dem Übergabegespräch, Waschen, Essens- und Medikamentenausgabe, dem Messen und Protokollieren von Werten, Patienten- und Besuchergesprächen und der abschließenden Dokumentation am PC hat Marina Münsterer eigentlich einen ganz normalen Arbeitstag vor sich, wenn sie ihre Schicht in der Neurologischen Frührehabilitation des Klinikums Harlaching beginnt. Für die 18-jährige Pflegeschülerin ein Frühstart in die Praxis, den sie, nur fünf Monate nach Ausbildungsbeginn, ohne sichtbare Nervosität hinlegt. Die Verantwortung ist groß, wirklich schiefgehen kann aber kaum etwas. Kollegin Veronika Neueder, 22 Jahre alt und im dritten Ausbildungsjahr, ist bei jedem Arbeitsgang dabei. Für Rückfragen steht auf der Station die erfahrene Kollegin Elisa Joisten bereit, wiederum unterstützt von Anna Kaiser, die am Harlachinger Klinikstandort für die Anleitung von Nachwuchskräften frei gestellt- und schnell zur Stelle ist, wenn nötig.

Dreimal täglich werden die Vitalfunktionen überprüft. (Foto: Catherina Hess)

Münsterer und Neueder sind seit zwei Wochen als selbständiges Zweierteam auf ihrer Station unterwegs, im Rahmen eines Pilotversuchs, der den Praxisanteil in der Pflegeausbildung erhöhen soll, wie es die Neufassung des Pflegeberufegesetzes von Anfang 2020 an fordert, auch auf Drängen der EU. Das Azubi-Tandem ist nur ein Weg zu diesem Ziel, allerdings ein neuer und vielversprechender, wie alle Beteiligten gegen Ende der zweiwöchigen Testphase versichern. Im Sommer 2018 war schon ein erster Versuch in Bogenhausen gut gelaufen. Zehn Auszubildende betreuen in fünf Teams jeweils sechs Patienten selbständig in der Früh- und Spätschicht. Nach dem Prinzip der "abnehmenden Begleitung" halten sich Kaiser und Joisten im Lauf der zwei Wochen immer mehr im Hintergrund. An Freiwilligen unter den 400 Schülern der Pflegeakademie des Klinikums München fehlte es nicht - vor allem die Fortgeschrittenen rissen sich darum, ihr Wissen testen und an die Neulinge weitergeben zu können.

Die Medikation muss genau in Listen eingetragen sein. (Foto: Catherina Hess)

Christine Boldt, Dekanin an der Hochschule München (früher FH), sieht die europäischen Nachbarn ein gutes Stück weiter, wenn es darum geht, die Praxis-Ausbildung nicht dem Sachzwang zur Akademisierung zu opfern. Der trifft nicht nur das Studium der Pflegewissenschaften, sondern auch die duale, oder der rein beruflichen Ausbildung. Die Pflege wird immer komplexer und wissenschaftlich anspruchsvoller, die Landung im Berufsalltag am Ende damit für viele härter. Übung fordert sowohl der Umgang mit den Patienten, als auch mit älteren, resoluten Kolleginnen und Kollegen.

Eine Sttation im Krankenhaus Harlaching: Hygiene wird groß geschrieben. (Foto: Catherina Hess)

Die Neurologische-Früh-Reha ist bei alldem als Ausbildungsstation für das Projekt prädestiniert: Hier kommt vieles zusammen, was über die reine "Basispflege" hinausgeht, also die Hilfestellung bei Alltagsverrichtungen. Versorgt werden auf der Station meist Schlaganfallpatienten - oft über mehrere Wochen. Viele kommen aus der Intensivstation hierher und werden anschließend in eine stationäre oder ambulante Reha überwiesen. Man ist also nach beiden Seiten stark "verzahnt", erklärt Pflege-Anleiterin Anna Kaiser. Wie kaum eine andere Abteilung, arbeitet die Station mit externen Fachleuten, wie Physio-, Ergo- und Logotherapeuten zusammen, "da geht es manchmal zu, wie im Taubenschlag", beschreibt Kaiser den Arbeitsplatz.

Schwere oder halbseitig gelähmte Patienten müssen vorsichtig im Bett gedreht werden. Dafür üben die Pflegeschüler die "sanfte Mobilisierung". (Foto: Catherina Hess)

Wenn der Physio-Raum gerade frei ist, üben die Schülerinnen dort gemeinsam Techniken zur sanften Mobilisierung. Zum Beispiel geht es darum, wie man halbseitig gelähmte Patienten unter Ausnutzung des Eigengewichts durch "spiralige" Körperdrehungen um die Körperachse für alle Beteiligten schonend im Bett bewegen kann. Überhaupt ist großer Krafteinsatz in der Pflege heute nicht mehr gefragt, teils für den Patienten sogar schädlich, erklären die Schülerinnen. In diesem Punkt vermissen sie die männlichen Kollegen kaum. Das Geschlechterverhältnis könnte trotzdem ausgewogener sein; es liegt hier mit neun jungen Frauen und einem Mann ziemlich genau im Gesamtschnitt.

Der sanfte Umgang mit teilgelähmten Patienten gehört zu den wichtigsten Besonderheiten der Schlaganfall-Nachsorge. Eine zweite große Aufgabe fordert ebenfalls Behutsamkeit: Sprach- oder Spracherkennungsstörungen bremsen oft ein allzu forsches Vorgehen bei Routinetätigkeiten, wie dem täglichen Messen der "Vitalzeichen", Blutdruck, Puls und Temperatur. Die Prozedur muss, außer bei sehr stabilen Werten, drei Mal am Tag wiederholt werden.

Vielleicht verlangt die Begegnung mit den Zweierteams desorientierten, oder sprachlich eingeschränkten Patienten hie und da mehr ab, als die sonstige Pflegeroutine. Aber Beschwerden oder besondere Stresssymptome gab es aber bisher nicht. Im Gegenteil: Die Stimmung in der Station ist entspannt und heiter - obwohl Azubis und Betreuer stets nah am medizinischen Ernstfall arbeiten. Wenn die erste Zwischenbilanz bei den Ausbilderinnen "grandios" ausfällt, dann gilt dies für beide Seiten des Bettes: Die wissenschaftliche Auswertung steht zwar noch aus. So weit es Kaiser und Joisten beobachten, haben die im Team betreuten Patienten aber außergewöhnlich schnelle Fortschritte gemacht.

© SZ vom 27.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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