Haidhausen:Auftauen und sichtbar machen

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Gutes Team: Noah und sein Helfer Johannes vom Verein zur Betreuung und Integration behinderter Kinder und Jugendlicher (Bib). (Foto: Stefan Randlkofer/oh)

Der Verein zur Betreuung und Integration behinderter Kinder und Jugendlicher bringt ehrenamtliche Unterstützer mit Familien zusammen, die zwischendurch mal Hilfe brauchen können

Von Johannes Korsche, Haidhausen

Wenn man so will, ist Martin Faber heute da, wo er ist, weil ihn eine Mitschülerin in der neunten Klasse beleidigte. Als Berufsberatung auf dem Lehrplan stand und Faber nicht so recht wusste, was er einmal werden will, sagte sie nur: "Du Depp, du wirst Streetworker". Daran erinnert sich der 49-Jährige noch heute. Tatsächlich ging er dann auf die Fachoberschule für Sozialwesen (FOS) und studierte später Soziale Arbeit. Streetworker ist er aber doch nicht geworden. Faber arbeitet beim Haidhauser Verein zur Betreuung und Integration behinderter Kinder und Jugendlicher (Bib). Dort ist er für die freiwilligen Helferinnen und Helfer des Vereins zuständig, die Kinder mit Behinderung und deren Familien ehrenamtlich unterstützen. "Wir suchen fortlaufend Leute", sagt Faber. Studenten, Senioren - so lange man bereit sei, Zeit zu investieren, könne man sich bei Bib engagieren. Nur ernsthaftes Interesse müsse mitgebracht werden.

Es geht dem Verein auch darum, die besonderen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung sichtbar zu machen und Berührungsängste abzubauen. Auch Martin Faber musste diesen Umgang erst lernen. Anfangs, bei seinen ersten direkten Kontakten mit Menschen mit Behinderung, wusste er nicht, wie er sich verhalten soll. "Ich war wie eingefroren." Er wollte das ändern. Im Zivildienst habe er gezielt nach einer Stelle gesucht, bei der er ein Kind mit Behinderung betreute. Er lernte "aufzutauen".

Sein halbes Leben setzt sich Martin Faber schon für die Belange von Kindern mit Behinderung ein, seit 2000 arbeitet er beim Bib in der Haidhauser Seeriederstraße. Er bringt die Freiwilligen mit passenden Familien zusammen. Um knapp 200 Münchner kümmert sich Faber. Sie spielen mit den Kindern, gehen mit ihnen ins Kino oder zum Shoppen. Sie schaufeln den Eltern Zeit frei, damit die auch mal ein wenig durchschnaufen können. Doch das seien nicht genügend, um dem Bedarf gerecht zu werden, sagt Faber.

Der Verein bietet für Neueinsteiger ein kostenloses und unverbindliches Einführungsseminar an. Im Anschluss daran entscheidet sich jeder, ob und in welchem Umfang er sich engagieren will. Ohne Druck, ganz frei kann man seine Zeiten festlegen, ob einmal im Monat oder einmal in der Woche. Es soll eine "bewusste Entscheidung" für die Arbeit sein, findet Faber. Er bringt anschließend eine Familie und den Helfer zusammen, sucht eine Familie, die möglichst in der Nähe wohnt. Zuerst telefonieren sie, schließlich treffen sie sich und nach dem Treffen entscheiden beide, ob man zueinander passt. Denn Fabers Wunsch ist es, dass sich eine "langfristige Beziehung" entwickelt, dass der Helfer zu einem "Bezugsmenschen" wird. Dass geht auch, wenn man sich nur alle zwei Wochen einen Nachmittag freischaufeln kann. Denn es können sich ja auch mehrere Helfer um ein Kind kümmern. "Mit dem einen geht man lieber ins Kino, mit der anderen lieber shoppen", sagt Faber. Das selbst zu wählen, sei auch eine Art der Selbstbestimmung für die Kinder.

Der Verein entstand 1988 aus einer Elterninitiative. Die Ehrenamtlichen erhalten auch eine Aufwandsentschädigung. Doch wegen des Geldes sollte man sich nicht engagieren. Es gehe nicht um einen Babysitter-Job, sagt Faber. Sondern darum, die Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderung voranzubringen. "Wir sind unglaublich weit weg von einer inklusiven Gesellschaft", sagt er. Und fügt an, dass eine solche Gesellschaft aber "eine Utopie ist, auf die wir zusteuern sollten". Der erste Schritt sei das "Sichtbarmachen" von Menschen, die auf den ersten Blick nicht dem entsprechen, was man unbedacht als "normal" bezeichnen würde.

"Sichtbarmachen" - das gehe damit los, gemeinsam auf das Streetlife-Festival zu gehen. "Bei manchen Eltern gibt es bei so etwas das Gefühl: ,Ah nee, lieber nicht wieder so angeschaut werden'." Die Helfer könnten damit oft ganz anders umgehen. Ebenso könnten sie "Schwellenkinder", wie Faber sie nennt, in der Schule unterstützen. Damit meint er jene Kinder, die nicht ins starre Raster des Schulsystems passen. "Kinder, die kognitiv fit genug sind für die Grundschule, aber beim Verhalten noch nicht - oder umgekehrt." Etwa 45 Schulhelfer sind beim Bib als 400-Euro-Jobber angestellt und "gleichen das aus, was die Schule nicht leistet". Eigentlich, findet Faber, müsste man grundsätzlich über das Schulsystem nachdenken und über den Stellenwert individueller Förderung. Denn letztlich würden in seinen Augen alle Kinder von einem anderen Schulsystem profitieren. Noch so eine Utopie, für die sich Faber und sein Verein einsetzen.

© SZ vom 08.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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